2. „Von den Juden und ihren Lügen“
Luthers aggressiv judenfeindliche Spätschriften sind berüchtigt. In »Von den Juden und ihren Lügen« (1543) wirft er den Juden in einer äußerst unflätigen Sprache vor, die Bibel falsch, nämlich »gesetzlich«, zu verstehen: »Pfu euch hie, pfu euch dort, und wo ihr seid, ihr verdammten Juden, daß ihr die ernste, herrliche, tröstliche Wort Gottes so schändlich auf euern sterblichen, madigen Geizwanst [zu] ziehen düret [= wagt] und schämet euch nicht, euern Geiz so gröblich an den Tag zu geben! Seid ihr doch nicht wert, daß ihr die Biblia von außen sollet ansehen, [ge]schweige daß ihr drinnen lesen sollet! Ihr solltet allein die Biblia lesen, die der Sau unter dem Schwanz stehet, und die Buchstaben, die daselbs heraus fallen, fressen und saufen …« Die Stelle ist interessant, nicht zuletzt wegen der von Luther aufgerufenen Assoziation zwischen Juden und Schweinen. Tatsächlich war und ist die Stadtkirche zu Wittenberg mit einer sog. »Judensau« dekoriert, einem antisemitischen Symbol, das im mittelalterlichen Deutschland verbreitet war. Luther deutet es auf den jüdischen Umgang mit dem Talmud.
Theologisch wirft der Wittenberger Reformator den Juden u. a. ihren angeblichen Hochmut bzw. ihre Selbstgerechtigkeit vor, die sie glauben mache, dass gute Werke vor Gott helfen könnten. Darin eingeschlossen ist der Vorwurf, die jüdische Messiaserwartung laufe aufgrund ihrer politischen Aspekte auf einen Glauben auf Selbsterlösung bzw. Selbstbefreiung hinaus. Dabei führt Luther neben biblischen Bezügen auch geschichtstheologische Argumente an: Er konfrontiert Jesus Christus, den »wahren« Messias, der angeblich von den Juden gekreuzigt worden ist, mit dem »falschen« Messias Bar Kochba, dem Aufständischen; der »schlachtete sehr viele Christen, die unsern Messias Jesus Christus nicht verleugnen wollten«, bis er und sein Prophet Rabbi Akiba von den Römern getötet wurden. Diese Katastrophe hätte die Juden eigentlich demütigen müssen, wären sie nicht blind in ihrer Verstockung. Sie hätten anerkennen müssen, dass ihr politischer Messianismus gescheitert war und dass Jesus der wahre, geistliche Messias ist.
Die Tatsache, dass die Juden Jesus nicht als eingeborenen Sohn Gottes anerkennen wollen, wird von Luther als Blasphemie wahrgenommen: »Weil sie aber uns verfluchen, so verfluchen sie unsern HErrn auch; verfluchen sie unsern HErrn, so verfluchen sie auch Gott den Vater, Schöpfer Himmels und der Erden.« So stellt er fest: »Wer uns in diesem Artikel abgöttisch verleumdet und lästert, der verleumdet und lästert Christus, das ist: Gott selbst, als einen Abgott.« Das ist der Grund, warum Christen sich nicht länger duldsam gegenüber den Juden verhalten dürfen, wollen sie nicht »fremder Sünde teilhaftig« werden. Toleranz gegenüber den Juden würde eine Lästerung Gottes bedeuten, während die Verehrung des Sohnes Verfolgung seiner Feinde, der Juden, einschließen muss.
In dieser Theologie sind die schrecklichen praktischen Ratschläge Luthers begründet, die er als »scharfe Barmherzigkeit« ausgibt, in seiner Theologie begründet: »dass man ihre Synagogen oder Schulen mit Feuer anstecke«, »dass man auch ihre Häuser desgleichen zerbreche und zerstöre«, »dass man ihnen nehme alle Gebetbücher und Talmudisten«, »dass man ihren Rabbinern bei Leib und Leben verbiete, hinfort zu lehren«,»dass man den Juden das Geleit und Straße ganz und gar aufhebe«, »dass man ihnen den Wucher verbiete und nehme ihnen alle Barschaft und Kleinode an Silber und Gold«, »dass man den jungen und starken Juden und Jüdinnen in die Hand gebe Flegel, Axt, Karst, Spaten, Rocken, Spindel und lasse sie ihr Brot verdienen im Schweiß der Nasen«. Mehr noch: »dass man ihnen verbiete, bei uns … öffentlich Gott zu loben, zu danken, zu beten, zu lehren«, »dass ihnen verboten werde, den Namen Gottes vor unsern Ohren zu nennen«. Kurz: »Sollen wir der Juden Lästerung rein bleiben und nicht teilhaftig werden, so müssen wir geschieden sein und sie aus unserm Lande vertrieben werden.« Ja, wir müssen sie »wie die tollen Hunde ausjagen«.
Am 14. Februar 1546, wenige Tage vor seinem Tod, brach Luther seine letzte Predigt in Eisleben vorzeitig ab, um nur noch eine »Vermahnung wider die Juden« zu verlesen. Diese Kanzelabkündigung, die durch die Umstände ihrer Verlesung testamentarischen Charakter erhielt, endet mit den Worten: »Wollen sich die Juden zu uns bekehren und von ihrer Lästerung und, was sie sonst getan haben, ablassen, so wollen wir es ihnen gerne vergeben: wo aber nicht, so wollen wir sie auch bei uns nicht dulden noch leiden.«
Wie konnte es zu dieser Katastrophe der Theologie Luthers kommen? Kann es angesichts solcher Äußerungen überraschen, wenn der Philosoph Karl Jaspers knapp formuliert: »Was Hitler getan, hat Luther geraten, mit Ausnahme der direkten Tötung durch Gaskammern«?