Alexander Deeg
Die Geschichte von Jakob und Esau, den Zwillingsbrüdern, gestaltet sich von Mutterleibe an problematisch. »Und die Kinder stießen sich miteinander in ihrem [Rebekkas] Leib« (Gen 25,22) – so beginnt der gemeinsame Weg und setzt sich über den Verkauf der Erstgeburt (Gen 25,29-34) und das Erschleichen des Erstgeburtssegens (Gen 27,1-40) bis zur Flucht Jakobs vor seinem verständlicherweise zornigen Bruder Esau fort (Gen 27,41-28,9). Trotz allem aber kommen die beiden Brüder nicht voneinander los. Gott selbst schickt Jakob zurück ins Land der Väter, zur Verwandtschaft, zu Esau, dem betrogenen Bruder (vgl. Gen 31,3). Kein leichter Weg – und dennoch geschieht die Versöhnung der beiden. »Ich sah dein Angesicht«, sagt Jakob zu Esau, »als sähe ich Gottes Angesicht, und du hast mich freundlich angesehen« (Gen 33,10).
In jüngeren Darstellungen zum christlich-jüdischen Dialog wird gelegentlich vorgeschlagen, das nicht immer einfache Miteinander von Zwillingsbrüdern als paradigmatische Metapher für das christlich-jüdische Verhältnis zu verwenden.1 Wie die Geschichte der beiden Brüder Jakob und Esau antagonistisch, polemisch und doch untrennbar miteinander verbunden ist (vgl. Rom 9,10-13), so könne auch die Geschichte des Wechselverhältnisses zwischen Judentum und Christentum beschrieben werden.2 Gegenüber den bislang im christlich-jüdischen Dialog viellach gebrauchten Modellen einer »Mutter-Tochter-Beziehung« bzw. einer jüdischen »Wurzel«, aus der sich das Christliche entwickelt, böte dieses neue Modell der Zwillingsbruderschaft einerseits den Vorteil, die Einlinigkeit des Verhältnisses »Mutter – Tochter« bzw. »Wurzel – Pflanze« zu überwinden und die Wechselseitigkeit der Beziehung in den Blick zu rücken. Andererseits verbände sich damit die Chance, die nicht nur am Anfang gegebene, wurzelhafte, sondern bleibende, unlösbare Verbindung von Judentum und Christentum deutlicher in den Blick zu nehmen.
Auch in der Homiletik herrschte vielfach primär ein »Mutter-Tochter«-Paradigma vor. Man erkannte, dass die christliche Predigt ihren Ursprung in der jüdischen habe.3 Demgegenüber zeigte sich christliche Homiletik bislang kaum daran interessiert, wie Juden in den Synagogen durch die Jahrhunderte und bis in die Gegenwart die Heiligen Schritten auslegen, welche Umbrüche und Veränderungen sich dort zeigen und welche Antworten auf homiletische und hermeneutische Herausforderungen das Judentum fand und findet. Grob gesagt: Man meinte, Homiletik ohne den jüdischen Zwillingsbruder betreiben zu können. Überraschenderweise gilt diese Feststellung sogar für die Mehrzahl jener neuen Überlegungen zur Homiletik, die sich dezidiert im christlich-jüdischen Dialog verorten. Diese fragen meist danach, wie sich christliche Predigt inhaltlich verändern müsse, um Antijudaismen zu vermeiden und zu einer gerechten Darstellung des Judentums in christlicher Predigt zu gelangen. Ihnen geht es vor allem darum, das, was in anderen Fächern der Theologie – vor allem in der Exegese und Dogmatik – erkannt wurde, in die kirchliche Rede hinein anzuwenden.4 Natürlich war diese Zielrichtung wichtig – und wird es auch in Zukunft bleiben. Sie blendet aber das Lernpotential aus, das dort entdeckt werden könnte, wo es dezidiert zu einer Wahrnehmung des jüdischen homiletischen Bruders kommt.
Neuansätze hin zu einer solchen Wahrnehmung lassen sich in den vergangenen Jahren am ehesten dort ausmachen, wo die Predigt des Alten/Ersten Testaments zum Gegenstand christlicher Überlegungen wird. Bereits Horst Dietrich Preuß‘ Darstellung »Das Alte Testament in christlicher Predigt« aus dem Jahr 1984 enthält ein ausführliches Kapitel zur jüdischen Predigt.5 Und auch Heinz-Günther Schüttler kommt in seiner Untersuchung zur »Christlichen Predigt des Alten Testaments« auf jüdische Predigt und Homiletik zu sprechen.6 Zentrale Bedeutung für die eigene homiletische Arbeit nehmen die Beobachtungen im Judentum allerdings weder bei Preuß noch bei Schüttler ein.
Ebenfalls im Kontext seiner Überlegungen zur Predigt des Alten Testaments formulierte Kudoll Bohren in seiner 1971 zuerst erschienenen »Predigtlehre« eine Perspektive, die weit über die homiletische Spezialfrage nach dem Umgang mit der jüdischen Bibel in der christlichen Predigt hinausweist. Bohren schreibt:
»Nur Hochmut und Ignoranz könnten den evangelischen [und ich ergänze: natürlich auch den katholischen!, AD] Prediger hindern, vom Rabbiner zu lernen. […] Soll der Prediger nicht reden wie ein Rabbiner, so soll er nicht ohne den Rabbiner predigen: Die Kirche kann von der Synagoge nicht absehen, es sei denn, sie verliere ihre Verheißung.7
Mehr als 20 Jahre nach dieser wegweisenden, aber kaum beachteten Richtungsangabe Bohrens, nahm Axel Denecke den Faden wieder auf. In seinem 1996 vorgelegten Buch »Als Christ in der Judenschule« führt er exemplarisch vor Augen, wie Christinnen und Christen aufgrund der Wahrnehmung jüdischer Bibelauslegung und jüdischer theologischer Reflexion eine neue und anregende Sprache des Glaubens lernen könnten. Im Blick auf die Predigt schreibt Denecke:
»[…] immerhin ist die jüdische Erfahrung des Gelingens und auch Mißlingens der Rede von Gott doppelt so alt wie die christliche. Es ist eigentlich verwunderlich, daß bisher – soweit ich es sehen kann, und ich denke, ich habe mich überall umgesehen – noch keiner auf den naheliegenden Gedanken gekommen ist, hier als Homiletiker […] in die Judenschule zu gehen und von der jüdischen Rhetorik für unsere Predigt zu lernen.«8
Das Bewusstsein dafür, dass es sich lohnen könnte, in der von Bohren und Denecke angedeuteten Richtung weiterzugehen und jüdische Predigt und Homiletik in den Blick zu nehmen, scheint in den vergangenen Jahren zu wachsen. So finden sich Artikel zur jüdischen Predigt in einschlägigen theologischen Nachschlagewerken9 und immer wieder erscheinen Beiträge, die punktuell auf Lernchancen aufgrund einer homiletischen Wahrnehmung des Judentums verweisen.10 Nicht zuletzt liegt mit Andrea Bielers Monographie »Die Sehnsucht nach dem verlorenen Himmel« (2003) ein Werk vor, das die jüdische und christliche homiletische und liturgische Entwicklung im 19. Jahrhundert im Vergleich beleuchtet.11
Im Folgenden gehe ich auf wenigen Seiten einen Lernweg, der seinen Ausgang bei der Wahrnehmung des bisher wenig beachteten jüdischen Zwillingsbruders nimmt. In vier groben Stationen versuche ich, die Entwicklung jüdischer ›Predigt‹ durch die Jahrhunderte nachzuzeichnen (II).12 Wie diese Wahrnehmung der anderen homiletischen Tradition zu Erkenntnissen für die eigene Homiletik führen kann, deute ich im folgenden Punkt exemplarisch an (III). Der abschließende Teil (IV) blickt sehr knapp in die Zukunft und stellt die Frage, wie die homiletischen Zwillingsbrüder künftig gemeinsam unterwegs sein könnten.
Lee I. Levine spricht davon, dass die Frage nach den Ursprüngen der Synagoge trotz all der wissenschaftlichen Arbeit, die auf sie verwendet wurde, bis heute über »ein gelehrtes Ratespiel« nicht hinausgekommen sei.13 Gleiches lässt sich ohne Übertreibung für die Frage nach den Anfängen jüdischer Predigt sagen.
Kann aus einem Text wie Neh 8,1-18 ein Ursprung jüdischer Predigt rekonstruiert werden? Was bedeutet es, dass die Leviten den von Esra verlesenen Text des Gesetzbuches verständlich machein (vgl. V. 7 f)? Ist dabei bereits die Regelpraxis eines synagogalen Gottesdienstes im blick, zu dem Schriftlesung und Auslegung gehören? Die Mehrzahl der Exegeten bleibt hier zu Recht vorsichtig.14 Die früheste Schilderung eines Synagogengottesdienstes mit schriftauslegendem Vortrag im Gebiet Palästinas15 findet sich im Lukasevangelium, in einer Perikope, die in der Lutherbibel die Überschrift »Jesu Predigt [!] in Nazareth« trägt (Lk 4,16-30). Jesus liest aus Jes 61, und die Gemeinde erwartet eine Auslegung, die Jesus dann in kürzester Form liefert. Sicherlich lag das Interesse des Evangelisten nicht darin, grundlegende Elemente jüdischen Gottesdienstes im ersten Jahrhundert vor Augen zu führen. Zumindest aber weist dieser Text auf die synagogale Lesung der Jüdischen Bibel als Sitz im Leben der Predigt.
Dass diese gottesdienstlichen Tora-Lesungen schon früh in das umgangssprachlich verwendete Aramäisch übersetzt wurden, ist bekannt. Und immer noch spricht vieles dafür, dass sich jüdische Predigt aus der Praxis dieser Übersetzungen, aus den Targumim, entwickelte. Von relativ freien, interpretierenden und aktualisierenden Übersetzungen ist es nur ein kleiner Schritt hin zur Predigt.
Im rabbinischen Judentum wird solche Predigt mit dem Terminus Derascha bezeichnet, abgeleitet von der hebräischen Wurzel darasch (suchen bzw. fragen). Das Verb darasch wird in der Hebräischen Bibel einerseits in einem profanen, andererseits in einem spezifisch theologischen Sinn gebraucht, wobei die theologische Bedeutung überwiegt.16 In älteren Texten bezeichnet darasch die Institution der Gottesbefragung durch einen Propheten; später weitet sich das semantische Spektrum, und das Verb kann für die Volksklage oder die Klage einzelner und dann auch allgemein für das Gottesverhältnis verwendet werden (am pointiertesten in Am 5,1: »sucht mich [dirschuni], so werdet ihr leben«). Schließlich verändert sich auch das Objekt des Suchens/Befragens: Befragt werden in späteren alttestamentlichen Texten die Gebote (vgl. nur Ps 119,45) oder das »Buch JHWHs« (Jes 34,16). An diese Bedeutung der Wurzel darasch knüpfen die Rabbiner» an, wenn sie ihre Auslegungen Deraschot nennen. Und es zeigt sich bereits durch diese Begrifflichkeit, wie unmittelbar Theologie und Hermeneutik rabbinischer »Predigt«17 verbunden sind: Derascha bedeutet – auf dem Hintergrund dieser kurzen semantischen Analyse – das genaue Befragen des biblischen Wortes in der Krwartung, in diesem Befragen Gott selbst zu begegnen; und gleichzeitig bezeichnet der Begriff die Weitergabe solcher Auslegung an andere, die Predigt.
Die Suche nach dem Ursprung jüdischer Predigt bleibt »ein gelehrtes Ratespiel«. Sicher greifbar hingegen sind die Deraschot der Rabbinen. Und es stellt sich die Frage: Wie sahen Deraschot konkret aus, die ein solches erwartungsvolles Suchen im Text sprachlich gestalten. Lassen sich aus den überlieferten rabbinischen Texten Aussagen darüber ableiten?
2.2 Die Peticha – und die Suche nach der Derascha in rabbinischer Zeit
Im rabbinischen Schrifttum findet sich seit dem 4. Jahrhundert eine Gruppe von Texten, die meist als »homiletische Midraschim« bezeichnet werden.18 Im Gegenüber zu den »exegetischen Midraschim« sind diese Sammlungen von Bibelauslegungen dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht Vers für Vers auf den Text der Heiligen Schrift eingehen, sondern zahlreiche Auslegungen um einzelne Verse gruppieren, andere Verse hingegen vollständig übergehen. Es spricht vieles für die Annahme, dass es sich bei den kommentierten Versen um die jeweils ersten Verse der Leseperikopen (Paraschot) der einzelnen Sabbate nach dem in Palästina üblichen Lesezyklus handelt und dass das in den homiletischen Midraschim gesammelte Material daher einen liturgischen Sitz im Leben hat.19
Besonders auffällig erscheint in diesen Midraschim eine literarische Form, die allgemein Peticha genannt wird und sich nach einer Zählung Joseph Heinemanns mehr als 2000mal im rabbinischen Schrifttum landet.20 Eine Peticha endet mit dem biblischen Vers, von dem angenommen werden kann, dass er der erste Vers der Toralesung an dem jeweiligen Sabbat oder Feiertag war. Sie beginnt aber mit einem völlig anderen Bibelvers – meist aus den Ketubim, den »Schriften«, oder aus dem Corpus propheticum. Zwischen diesem entfernten Versa, mit dem die Peticha beginnt, und dem Lesevers spannt der Darschan (der Ausleger, Prediger) einen Bogen, indem er Einzelauslegungen, Gleichnisse oder kurze Erzählungen aneinander fügt.
Erste formkritische Untersuchungen zu den Petichot finden sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Damals ging man mehrheitlich davon aus, dass es sich bei der Peticha um die Einleitung zur synagogalen Predigt in rabbinischer Zeit gehandelt habe.21 Mehr und mehr aber nahmen Forscher die Eigenständigkeit der Petichot wahr22 – bis hin zu der These, die etwa Joseph Heinemann einflussreich vertrat, wonach es sich bei diesen
Petichot um die eigentlichen Deraschot in den Synagogen gehandelt habe.23
Vorstellen könnte man sich dies dann etwa wie folgt: Jüdinnen und Juden kamen zum Gottesdienst zusammen. Wesentlicher Inhalt des Sabbatmorgengebets war die Lesung aus der Tora, die in lectio continua und in Palästina wohl in einem dreijährigen Turnus erfolgte.24 Geht man von einer relativ soliden Torakenntnis der Gottesdienstbesucher aus, dann kann man auch annehmen, dass die meisten – wenigstens grob – wussten, was an diesem Sabbat gelesen werden wird. Dann nahm der Gottesdienst seinen Lauf. Psalmen wurden gesungen, das SchmaJisrael gelesen, das am Sabbat gekürzte Achtzehngebet gesprochen. Im Anschluss trat der Darschan vor – und begann mit seiner Derascha. Noch vor der Lesung aus der Tora. Allerdings begann er nicht mit dem Vers aus der Tora, mit dem später die Lesung beginnen wird. Im Gegenteil: er begann und zitierte einen völlig anderen, weit abgelegenen Bilielvers. Die Zuhörer aber wussten: Seine Aufgabe wird es sein, mit den Worten der Derascha von diesem entfernten Vers hin zur Toralesung, die für diesen Sabbat vorgesehen war, zu gelangen. Eine Grundspannung war gegeben und ein Weg vorgezeichnet für die Derascha, ein Weg innerhalb des Textraumes der Hebräischen Bibel, des Tanach (Abkürzung für Tora, Nebiim [Propheten] und Ketubim [Schriften]).
Diese Vorgabe scheint zunächst rein formal. Aber natürlich wurden die Petichalemmata nicht willkürlich gewählt, sondern so, dass mit dem Petichalemma und der Tora-Parascha auch ein inhaltliches Spannungsfeld eröffnet war. Etwa, um nur ein Beispiel für eine Peticha zu nennen, ein inhaltliches Spannungsfeld zur Frage nach der »Topographie Gottes«, nach dem Ort, an dem Gott zu suchen ist. Da begann eine Peticha mit einem Lemma aus Ps 11: »JHWH, im Himmel ist sein Thron« (V. 4). Sie mündet dann aber in Ex 3, in die Erzählung von einem Gott, der sich in der Niedrigkeit eines Dornbusches in der Wüste offenbart. Zwischen Transzendenz und Immanenz Gottes bewegt sich die ganze Peticha – und lügt auf dem Weg von Ps 11 zu Ex 3 unterschiedliche Einzelauslegungen aneinander, erzählt Geschichten und ein Gleichnis.25
Sahen die Deraschot in rabbinischer Zeit tatsächlich so aus? In der Judaistik sagen viele »Ja«, manche »Nein« – andere bleiben unentschieden dazwischen. Auf dem kurzen hier zur Verfügung stehenden Raum kann sicher keine Antwort gegeben und argumentativ entfaltet werden. Immerhin aber spricht m.E. der Regelbezug der Petichot auf die liturgisch perikopierte Tora deutlich für einen gottesdienstlichen Sitz im Leben dieser Texte. Und auf jeden Fall zeigen die Petichot, welche Hermeneutik die Derascha in rabbinischer Zeit grundlegend charakterisierte: Deraschot führten hinein in die Tora und verstrickten die Hörerinnen und Hörer in die Worte der Schrift. Sucht man einen Begriff, um diese Hermeneutik zu charakterisieren, so legt es sich m.E. nahe, sie als skripturale Hermeneutik zu bezeichnen. Der Ausleger redet nicht über die Schrift; er ermittelt nicht eine Aussage des Textes, sondern führt Wege hinein in die Sacra Scriptura.
Der berühmte Satz von Ben Bag Bag aus mAv 5,2 226 bringt diese skripturale Hermeneutik treffend auf den Punkt. Ben Bag Bag sagt: »Wende sie [die Tora, AD] um und wende sie um, denn alles ist in ihr.« Die Erwartung, »alles« in der Schrift zu finden, ist die Grundlage für eine akribisch genaue Lektüre des biblischen Textes. Einzelne Worte, ja sogar Buchstaben, werden untersucht. Vielfach werden verwandte Bibelstellen herangezogen, so dass sich eine Auslegung ergibt, die mit einem Leitwort aus der literaturwissenschaftlichen Diskussion des 20. Jahrhunderts als intertextuell bezeichnet werden könnte. Im Nachgehen der biblischen Worte und Erzählungen und in der intertextuellen Vernetzung mit anderen Texten erkennen die Ausleger, dass die Worte der Schrift nicht über Vergangenes sprechen, sondern es in ihnen um die Gegenwart des Gottesvolkes geht. Damit aber ist für rabbinische Auslegung gleichzeitig völlig klar, dass die biblischen Texte nicht nur die eine Aussage haben, die ein- für allemal ermittelt werden könnte. Im Gegenteil sind sie überzeugt, dass die Worte der Bibel durch eine Vielzahl der Interpretationen nicht an Bedeutung verlieren, sondern immer reicher werden. So meint etwa Abaje in einer Auslegung zu Bs 62,12 (»Eines hat Gott geredet, ein Zweifaches habe ich gehört…«): »[…] eine Bibelstelle hat mehrere Bedeutungen, nicht aber ist eine Bedeutung aus verschiedenen Bibelstellen zu entnehmen« (bSan 34a). Im Kontext des Talmud findet sich gleich danach ein Wort aus der Schule Rabbi Jischmaels: Wie das Wort Gottes als ein Hammer bezeichnet wird, der l eisen zerschmeißt (Jer 23,29), so seien die vielfältigen Auslegungen als die vielen Funken zu verstehen, die dabei entstehen. Im mittelalterlichen Midrasch BemR heißt es dann, die Tora habe siebzig Gesichter und damit letztlich unendlich viele Möglichkeiten, gegenwärtige Hörer und Leser
›anzublicken‹ (BemR Naso 13,15).
Zusammenfassend kann das, was skripturale Hermeneutik in rabbinischer Zeit bedeutet, durch die vier Begriffe Genauigkeit, Intertextualität, Aktualität und Pluralität m.E. treffend charakterisiert werden. Die rabbinischen Texte – und ganz besonders die Petichot – führen eine Auslegung eindrucksvoll vor Augen, die voller Erwartung die Tora genau befragt und gegenwärtige Hörer/Leser vielfältig in die Worte und Geschichten der Tora verstrickt.
An die rabbinische Zeit schließt sich das jüdische Mittelalter an – eine Epoche, in der sehr viele Deraschot veröffentlicht wurden und auch erste homiletische Anleitungsbücher entstanden.27 Hermeneutisch wird in jenen Jahrhunderten ein Umbruch greifbar, der plakativ als der Weg von einer skripturalen zu einer meta-skripturalen Hermeneutik charakterisiert werden könnte:28 Vor allem die karäische Kritik an der Art und Weise rabbinischer Schriftauslegung und die Einflüsse durch die Rezeption primär aristotelischer Philosophie führten dazu, dass viele mittelalterliche Deraschot vor allem philosophische oder ethische Aussagen entwickeln und diese durch Belege aus der Schrift begründen. Plakativ gesagt kehrte sich die hermeneutische Richtung gegenüber der rabbinischen Zeit um: Die Derascha führt nicht mehr hinein in die Tora und in die widersprüchliche Vielfalt unterschiedlicher »Funken«, die sich ergeben, wenn die Steine der Worte und Buchstaben sorgfältig behauen werden, sondern führt aus der Tora heraus zur begründeten philosophischen oder ethischen Aussage. Daneben entwickelte sich eine dritte wesentliche Richtung der Derascha im jüdischen Mittelalter: die mystische Predigt. Auch deren Hermeneutik kann insofern als meta-skriptural bezeichnet werden, als mystische Ausleger versuchten, gleichsam durch die Worte der Schrift und die Vielfalt der Auslegungen hindurch zum eigentlichen Grund der hinter den Buchstaben verborgenen Fora, zur unio mystica, vorzustoßen. Philosophische, ethische und mystische Predigt – jede dieser Entwicklungen würde es rechtfertigen, je für sich genau beleuchtet zu werden. Dazu allerdings fehlt hier der Raum, weswegen ich einen gewaltigen Sprung mache und mit der modernen jüdischen Predigt, wie sie sich im 19. Jahrhundert entwickelte, fortfahre.
2.3 Die moderne jüdische Predigt – Der Neuansatz im 19. Jahrhundert
Die Frage nach den Anfangen jüdischer Predigt, die oben (II.l) gestellt wurde, hätte auch eine andere – und auf den ersten Blick wohl überraschende – Antwort finden können. Es wäre möglich zu formulieren: Jüdische Predigt beginnt im frühen 19. Jahrhundert! In dieser Zeit der Emanzipation und Akkulturation jedenfalls nahmen jüdische Reformkräfte im deutschsprachigen Bereich erstmals dezidiert und in Abgrenzung zur Bezeichnung Derascha (jiddisch: Drosche) den bisher ausschließlich im Christentum verwendeten Terminus »Predigt« auf. Entsprechend setzt das 1870 und 1872 in zwei Bänden vorgelegte und von Meir Kayserling zusammengestellte Sammelwerk »Bibliothek jüdischer Kanzelredner« mit einer Predigt ein, die Joseph Wolf (1762-1826) im Jahre 1808 in Dessau hielt.29 Ohne Übertreibung kann die Bewegung jüdischer Reform, die sich in jenen Jahren zunächst im deutschsprachigen Bereich entwickelte, zugleich als eine Predigtbewegung verstanden werden. Jüdische Reformer (unter ihnen seien exemplarisch Leopold Zunz [1794-1886] und Eduard Kley [1789-1867] genannt), sahen die landessprachliche (nicht mehr jiddische) Predigt als geeignetes Mittel, um zwei dringende Aufgaben zu lösen: Einerseits ging es – nach innen – darum, ein Judentum, das die klassische Plausibilitätsstruktur jüdischen Lebens, wie sie vorher in den von ihrer Umwelt relativ abgegrenzten jüdischen Gemeinden existierte, verloren hatte, neu zu einem zeitgemäßen und daher reformierten Judentum zu führen.30 Das Ziel lag darin, aus »Jews by fate«, als die sich viele Jüdinnen und Juden vor allem in den Städten fühlten, neuerlich »Jews by faith« zu machen.31 Andererseits ging es – nach außen – darum, inhaltlich und formal den Anschluss an die christliche Mehrheitsgesellschaft zu suchen. Die deutschsprachige Predigt erschien als geeigneter Weg, um beide Ziele zu erreichen. Nicht selten waren die frühen Predigten jener Zeit darauf ausgerichtet, aus der Tora und der jüdischen Tradition heraus (meta-skriptural) allgemein akzeptierte philosophisch-
theologische Gedanken oder ethische Grundwerte darzustellen.
Ein Beispiel: Eduard Kley predigte am letzten Tag des Passafestes 5586 (1826) im Hamburger Tempel unter dem Titel »Der Auszug aus Mizrajim, auch für das Alltagsleben«.32 Der Titel verweist auf die grundlegende Zielrichtung und Hermeneutik der Predigt: Kley möchte zeigen, wie die ›alte‹ Geschichte vom Auszug aus Ägypten für das Alltagsleben der Gegenwart (noch) bedeutsam sein kann. In drei Punkten (man beachte die formale Anlehnung an die »schulgerechte« christliche Predigtpraxis der damaligen Zeit!) entwickelt Kley seine Predigt und führt vor Augen, dass das Passafest nach einer Alltagsgestaltung verlange, die (1) den Feiertag nicht aus dem Blick verliere, (2) sich in Enthaltsamkeit übe und (3) den Nächsten im Blick behalte. Wo das geschehe – so Kley zum Abschluss seiner Predigt – könne der Alltag bereits zu einem »Vorgeschmack der Seligkeit«33.] werden.
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts kristallisierte sich das Problem der frühen Predigtbewegung immer deutlicher heraus: Angesichts der gesuchten Allgemeinheit und gesellschaftlichen Anschlussfähigkeit der Predigt stellte sich die Frage, worin das spezifisch Jüdische jüdischer Predigt eigentlich gesehen werden könne. Grob formuliert folgte daher auf eine erste Phase der Predigtbegeisterung, die christliche Predigt weithin imitierte, eine Zeit homiletischer Rückfragen und [Differenzierungen. So suchte etwa Ludwig Philippson (1811-1889), der Publizist, Rabbiner, Prediger und Schriftsteller, einen Weg, der das Alte (die Derascha) und das Neue (die jüdische Predigt) verbinden könne. Es sei die Zeit gekommen zur »Vermittelung des Alten und Neuen«, zum Ausgleich zwischen partikularer Offenbarung an das jüdische Volk und universaler Moral.34; vgl. Ders.: Die Rhetorik und die jüdische Homiletik. In Briefen und Abhandlungen (Hg. Meir Kayserling), Leipzig 1890.] Noch die erste wissenschaftliche jüdische Homiletik, die von Siegmund Maybaum (1844-1919) verfasst wurde und 1890 erschien, sucht genau nach dieser Vermittlung.35
Manchen jüdischen Predigern jener Jahre scheint es eindrucksvoll gelungen zu sein, das spezifisch Jüdische ästhetisch derart ansprechend zu gestalten, dass sogar zahlreiche Christen von jüdischer Predigt fasziniert waren. So war der Wiener Prediger und Midraschforscher Adolf Jellinek (1821-1893) ein gefeierter Kanzelredner. Seine Predigten zeichneten sich vor allem dadurch aus, dass sie intensiv aus der jüdischen Tradition, besonders aus den in den Midraschim gesammelten Bibelauslegungen der Kabbinen, schöpften.
Die berühmteste Predigt Jellineks wurde – wie die oben angeführte Predigt Kleys – am siebten Tag des Passafestes gehalten, nun im Jahr 1861.36 In ihr inszeniert Jellinek die dramatische Bewegung des Hohenliedes, der Megilla zum Passafest, neu, indem er Israel mit der Liebenden identifiziert und den Geliebten mit Gott. Die Töchter Jerusalems aus dem Hohenlied werden mit den Völkern in Beziehung gebracht. In der Predigt erzählt Israel dann seine Geschichte, wird in ein Streitgespräch mit den Völkern verwickelt und erlebt schließlich das Heraufziehen eines neuen Morgens nach der langen Nacht. Im Vergleich zu der Predigt Kleys zeigt sich das Besondere der Predigtweise Jellineks: Spricht Kley ausgehend von einem biblischen Text über das Verhältnis von Alltag und Feiertag, so nimmt Jellinek seine Hörerinnen und Hörer in die Bewegung des Hohenlieds und damit in die Dramatik der Geschichte Israels mit seinem Gott und den Völkern hinein.
Das 19. Jahrhundert steckt im Judentum voller homiletischer Bewegung: Predigtbegeisterung, Predigtkritik und Konsolidierung einer modernen jüdischen Predigt folgten aufeinander. Die Entwicklungen im Judentum hätten vielfache Möglichkeiten für die christliche Seite geboten, in einen homiletischen Dialog mit dem jüdischen Zwillingsbruder zu treten. Zu diesem aber kam es nicht. So weist etwa Christian Palmer gleich auf der ersten Seite seiner Mitte des „19. Jahrhunderts erschienenen Homiletik jedes Gespräch nicht ohne Hochmut zurück: »Was von homiletischen Producten jüdischer Theologen bis jetzt in die Oeffentlichkeit gelangt ist, hat freilich für den christlichen Prediger wenig Instructives, da nicht ein originaljüdischer, alttestamentlicher Geist, sondern vorzugsweise das Reformjudenthum darin zu vernehmen ist.«37 Christian Palmers Überheblichkeit ist unbegründet. Die jüdischen homiletischen und hermeneutischen
Suchbewegungen des 19. Jahrhunderts hätten auch dem christlichen Theologen eine Menge »Instructives« bieten können. Freilich aber weist Palmer mit seiner Frage nach dem »Originaljüdischen« auf ein Problem hin, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Judentum in aller Schärfe wahrgenommen wurde und in weiten Kreisen zu einer Krise der modernen jüdischen Predigt führte.
Die jüdische Reform des 19. Jahrhunderts hatte als eines ihrer Kinder die deutschsprachige jüdische Predigt hervorgebracht, die bei unterschiedlicher Akzentsetzung von den verschiedenen Richtungen des sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts differenzierenden Judentums übernommen wurde. Die jüdische Reformbewegung war von den Leitparadigmen der Rationalität und Universalität sowie von einem grundlegenden Fortschrittsoptimismus getragen. Alles dies wurde im frühen 20. Jahrhundert fraglich, als das Irrationale (das »Heilige«; das »Un(ter)bewußte«),das Partikulare und die Hinwendung zur Tradition mehr und mehr faszinierten.38.] Damit verlor auch die moderne jüdische Predigt, wie sie schulgerecht durch Maybaums Homiletik erst wenige Jahre vorher festgeschrieben worden war, vielfach ihre Akzeptanz. Zahlreiche junge Rabbiner hielten sie für ein Relikt aus vergangenen Zeiten. So schreibt Sinai Ucko im Rückblick aug die 1920er Jahre: »In ihrem Bewusstsein [dem Bewusstsein einer jungen Rabbinergeneration, AD] stand die Predigt durchaus nicht mehr so im Mittelpunkt, und auf die Regeln der Homiletik, die in den
Rabbinerseminaren noch gelehrt wurden, blickte man schon mit einer gewissen Ironie.«39 Stattdessen versuchten viele, so erneut Sinai Ucko, »die Predigt häufig durch einen Lehrvortrag zu ersetzen, um so […] an die alte Tradition des ›Lernens‹ anzuknüpfen.«40
Die Rückkehr zur Tradition und die neuerliche Hinwendung zu den Quellen des Judentums, zu Talmud und Midrasch, prägten etwa auch die hermeneutischen und gemeindepädagogischen Neuansätze, die sich mit Namen wie Franz Rosenzweig und Martin Buber verbinden und in eine Strömung hineingehören, die häufig als »Jüdische Renaissance« bezeichnet wird.
Eine ›homiletische Renaissance‹ lässt sich – gegenüber dieser hermeneutischen und pädagogischen Renaissance – in jenen Jahren vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs allerdings bestenfalls in einigen Spuren wahrnehmen – etwa bei Leo Baeck (1873-1956), der Predigt vor allem als eine Form der Lehre verstand, die die Gegenwart mit ihren Herausforderungen bewusst wahrnimmt, aber dennoch an die Tradition gebunden bleibt und die sich daher als »nachschaffende Beredtsamkeit« bezeichnen lasse.41 Auch bei dem Frankfurter Rabbiner Nehemia Anton Nobel (1871-1922) vernahmen viele Hörerinnen und Hörer eine andersartige Predigt, die sich bewusst im Kontext der synagogalen Liturgie verortete und die biblischen Texte neu in den Mittelpunkt rückte.
Nobels Predigt vermochte sogar Franz Rosenzweig zu begeistern, der sich lange Jahre als Verächter jeder Predigt gesehen hatte. Zu einer Kohelet-Predigt Nobels sehreibt Rosenzweig: »Er sprach fast die ganze Predigt in ruhigem Ton, wohl eine Stunde lang. Es war, als ob er mit jemandem redete. Aber dieser Jemand saß nicht unter uns. Plötzlich merkte ich: er sprach wirklich nicht zu uns, er redete ja in jedem Satz Kohelet unmittelbar an, er sprach nicht über, er sprach mit Kohelet. Und nun sah auch ihn [Kohelet, AD; …]«42 Folgt man Rosenzweigs Beschreibung, so inszeniert Nobel einen Dialog mit der Schrift, in dem der Hörer Rosenzweig zu einem Beteiligten wurde.
Die neuen homiletischen Ansätze der Zeit der Weimarer Republik hatten in Deutschland keine Zukunft. Sie wurden ein Opfer der Schoa – und erst seit wenigen Jahren ist durch den Neubeginn der Rabbinerausbildung in Deutschland eine Anknüpfung an die deutschsprachige jüdisch-homiletische Tradition denkbar.43
Sucht man nach weiteren Entwicklungen jüdischer Predigt im 20. Jahrhundert ist vor allem auf den englischsprachigen Bereich zu blicken, in dem sich – von Deutschland ausgehend – die moderne jüdische Predigt bereits früh im 19. Jahrhundert etablierte. Anders als in Deutschland kam es dort zu Beginn des 20. Jahrhunderts keineswegs zu einer Predigtkrise, vielmehr erfreute sich jüdische Predigt bis in die Mitte des Jahrhunderts hinein großer Beliebtheit.44 Dann allerdings kann in zahlreichen Publikationen ein Phänomen festgestellt werden, das sich m.E. am ehesten durch den Begriff »Predigtmüdigkeit« charakterisieren lässt. Zunächst bei den Rabbinern selbst, dann auch in den Gemeinden nimmt die Begeisterung für die Predigt merklich ab, und 1972 stimmte Hillel E. Silverman in einer prominenten Veröffentlichung sogar ein »Requiem for the Sermon« an.45
Seit einigen Jahren werden in den USA hermeneutische und homiletische Neuorientierungen gesucht. Unter anderem wurde und wird dabei (wie in der deutschsprachigen Jüdischen Renaissance vor rund 100 Jahren) die vor-moderne skripturale Hermeneutik des Midrasch mit ihrer Betonung der Genauigkeit, der Intertextualität und der Pluralität der Lektüre wieder vermehrt in den Blick genommen und als anregende Vorgabe für die gegenwärtige nach-moderne Situation gesehen. Auf theoretischer Ebene sucht etwa die akademische Gruppe der »Textual Reasoners« im Kontext der »American Academy of Religion« eine solche Anknüpfung;46 Wege zu einer durch die Wahrnehmung des Midrasch veränderten Gemeindepraxis geht z. B. das »Institute for Contemporary Midrash«47 Wie diese Diskussionen die jüdische Predigtlandschaft in den USA (und darüber hinaus) verändern werden, bleibt abzuwarten.
Ich breche diese knappe Darstellung der Entwicklung jüdischer Predigt an dieser Stelle ab. Besonders deutlich scheint mir, dass jüdische Homiletik nicht erst, aber vor allem seit dem 19. Jahrhundert durch die Herausforderung gekennzeichnet ist, Akkulturation und Bewahrung eigener Tradition, Universalität und Partikularität, »Religion und Modernität in Einklang zu bringen«.48 Immer wieder spitzt sich diese Modernitätsproblematik in den jüdischen homiletischen Diskussionen auf die Frage der Tora-Hermeneutik zu: Welcher Umgang mit dem ›alten‹ biblischen Text ist einer modernen Predigt angemessen ? Oder ist der Tora-Text gar nicht der alte Text, sondern die zeitübergreifend aktuelle Heilige Schrift? Oder beides zugleich? Wenn ich im Folgenden als christlicher Homiletiker mit der jüdischen Homiletik und Predigt in einen kurzen Dialog trete, so greife ich diese Frage nach der homiletischen Hermeneutik, die Frage nach dem Umgang mit dem Text auf dem Weg zur Predigt und in der Predigt selbst, als exemplarischen Gesprächsgegenstand heraus, da sie nicht nur die jüdische, sondern ebenso die christliche Homiletik intensiv beschäftigt.
Ein Lernen vom jüdischen homiletischen Zwillingsbruder setzt – neben der Wahrnehmung des Gegenübers – voraus, sich der Fragestellungen im eigenen Kontext möglichst genau bewusst zu sein. Daher stelle ich zunächst kurz die grundlegenden Herausforderungen dar, die sich christlicher homiletischer Hermeneutik m.E. stellen (III.1). Im Folgenden blicke ich ausgehend von diesen Fragestellungen auf die gegenwärtig vielfach wieder entdeckte skripturale rabbinische Hermeneutik (III.2), um abschließend Grundzüge einer im Kontext des Midrasch reformulierten »Predigt als Kon-Textualisierung« vorzustellen (III.3).
Die Frage nach dem Text in der Predigt scheint wieder aktuell. Nachdem seit der empirischen und rhetorischen Wende der späten 1960er und 1970er Jahre vor allem die Hörerinnen und Hörer sowie Fragen der Predigtkommunikation im Mittelpunkt des Interesses standen, gewinnt die homiletische Hermeneutik seit einigen Jahren im evangelischen wie katholischen Kontext neu an Bedeutung, wie sich überhaupt das Lesen der Heiligen Schrift neuer theologischer Würdigung erfreut.49 Dabei erscheinen mir nach wie vor drei Herausforderungen grundlegend:
(1) Die Herausforderung zwischen ›Text‹ und ›Wort‹: Wenn Predigtrede auf einem biblischen Text basiert, so stellt sich die Frage: Welche Rolle spielt dieser Text der Bibel für das Worf der Predigerinnen und Prediger ? Wird aus ihm lediglich ein Stichwort herausgegriffen, das dann assoziativ weiter entfaltet wird? Dient er dazu, einen ohnehin bekannten dogmatischen oder ethischen Gedanken zu bekräftigen? Bleibt er als ›alter‹ Text in der Vergangenheit liegen, um mit einem »Skopus« des Textes applikativ in der Gegenwart zu landen? Bereits 1957 schrieb Rudolf Bultmann: »Die Tatsache, daß die Predigt Schriftauslegung ist, bietet noch keine Garantie dafür, daß sie nicht doch allgemeine Wahrheiten vortragt, […] eine sog. christliche Weltanschauung oder christliche Lehren, Sätze einer christlichen Dogmatik.«50 Wird also der Widerstand des Textes häufig zu schnell übersprungen, um beim Wort der Predigt zu landen ? Und führt dies nicht letztlich zur Langeweile christlicher Predigt, wenn sie dann eben »allgemeine« und längst bekannte »Wahrheiten« vorträgt?
(2) Die Herausforderung zwischen Predigt und ›Wort Gottes‹: Martin Luther verstand die Predigt emphatisch als Verkündigung des Wortes Gottes. Andere folgten ihm bis hin zur berühmten Formulierung der Confessio Helvetica Posterior: »Praedicatio verbi Dei est verbum Dei« (Bullinger, 1562). Die Predigt als das Wort Gottes – diese Formel hielt die frühe Dialektische Theologie in Atem, ist auch ökumenisch nicht ernsthaft umstritten51 heißt: Gott so zu Wort kommen lassen, daß sich etwas ändern kann« [Rolf Zerfaß, Grundkurs Predigt I. Spruchpredigt, unter Mitarbeit von Klaus Koos, Düsseldorf 5 1997, 14; vgl. auch Klaus Müller, Homiletik. Ein Handbuch für kritische Zeiten, Regensburg 1994, bes. 222-234).] und bleibt m.E. in der Perspektive dogmatischer Predigtbetrachtung unverzichtbar. Andererseits aber droht in der homiletischen Praxis ständige pastorale Überforderung, wenn sich Predigerinnen und Prediger die Frage stellen, wie eigenes Wort in seiner Schwachheit Gottes Wort ›sein‹ (est!) soll bzw. werden kann. Meiner Wahrnehmung nach kann pastoraler Hochmut (mit entsprechend narzisstischen Kanzelinszenierungen) ebenso die Konsequenz dergestalt empfundener Uberforderung sein wie pastorale ‚Trägheit oder Lüge (mit dem bereits angedeuteten Problem der Kanzellangeweile). Es bleibt zu fragen: Welchen Weg gibt es, dem theologischen Anspruch der Predigt jenseits pastoraler Überforderung gerecht zu werden und welche Rolle spielt dabei der biblische Text ?
(3) Die Herausforderung angesichts der Krise der exegetisch-homiletischen Paarbeziehung: Gerd Theißen hat im Jahr 2000 einen erfrischenden Aufsatz vorgelegt. Er spricht darin von einer heftigen Beziehungskrise bei einem alten Ehepaar: der Homiletik auf der einen Seite, der Exegese auf der anderen. Die Ehe stecke in der Krise – und die besondere Tragik liege darin, dass die beiden voneinander nicht lassen können. Scheidung sei kein Ausweg.52Das Problem, auf das Theißen sich bezieht, ist so alt, wie es eine selbständige, von der dogmatischen Theologie getrennte biblische Wissenschaft eben ist. Das Problem gehört in den Umbruch der Aufklärung, kann wissenschaltshistorisch z. B. mit dem Namen Johann Philipp Gabler verbunden und als historisch-kritische Deknnouisiotung beschrieben werden: Ans den Texten des Kanons der Heiligen Schrift werden die historischen Texte der einzelnen biblischen Bücher.53 Inzwischen freilich ist das Problem nochmals komplexer geworden, denn nicht mehr nur diese moderne Problematik prägt die Diskussion, sondern die schillernde »condition postmoderne« (Jean-François Lyotard). Mit Philosophen wie Jacques Derrida tritt nun neben die historisch-kritische Dekanonisierung eine weitere, die man dekonstruktivistische Dekanonisierung nennen könnte.54 Jedes transzendentale Signifikat wird bei Derrida abgelehnt – und mit ihm jede auf »Sinn« oder »Wahrheit« zielende Lektüre. Was bleibt ist das muntere Spiel der Signiiikanten, eine Art hermeneutisches »anything goes« (Paul Feyerabend)55, mit dem sich weder theologische Reflexion noch kirchliche Schriftlektüre abfinden kann.
Andererseits aber – und auch darauf weist Gerd Theißen hin – bedeutet die nach-moderne Situation eine nicht unerhebliche Chance für das alte exegetisch-homiletische Paar. Die Dominanz einer den (›eigentlichen‹) Sinn des ‚Textes methodisch entschlüsselnden historisch-kritisch arbeitenden Exegese scheint zerbrochen – und mit ihr jeder Schematismus einer Aufgabenverteilung zwischen Exegese und Homiletik, bei der die Exegese den Inhalt vorgibt und die Homiletik diesen formal appliziert. Wege des vormodernen Umgangs mit der Schrift treten in spät- oder nach-moderner Situation neu in den Blick: etwa der vierfache Schriftsinn des Mittelalters.56
In der skizzierten hermeneutischen Großwetterlage erscheint es mir reizvoll zu fragen, inwiefern die seit etwa 20 Jahren intensiv in Gang gekommene hermeneutische Relektüre des vor-modernen Midrasch57 sowie die Neuentdeckung skripturaler rabbinischer Hermeneutik und entsprechend gestalteter Deraschot Perspektiven für die christliche homiletische und hermeneutische Diskussion eröffnen könnten. Ich setze einige der Entdeckungen zu Midrasch und Derascha daher mit den drei genannten homiletisch-hermeneutischen Fragehorizonten in Beziehung:
(1) Wort und Text – Kon-Textualisierung: Rabbinische Ausleger messen dem kanonischen Text der Tora höchste Autorität zu. Sie lesen ihn in der Überzeugung, dass jede kleinste Nuance bedeutsam ist. Im Midrasch Tanchuma wird dies – gleich zu Beginn, in der Auslegung von Gen 1,1- damit begründet, dass selbst geringste Veränderungen im Konsonantentext der Tora die ganze Welt verwüsten könnten.
Lese man etwa in Ps 150,6 (»Alles, was Odem hat, lobe den Herrn!«) bei dem Verb »loben« anstatt des dort verwendeten Buchstabens »he« ein »chet« (also techallelu statt tehallelu), so wäre nur ein winziger Strich mehr geschrieben, es stünde aber da: »Alles, was Odem hat, entheilige den Herrn.« Man würde die Welt durch solche Unachtsamkeit verwüsten.58
Aus dieser Ehrfurcht vor dem Text folgt eine midraschische Auslegung und eine entsprechende rabbinische Derascha, bei der sich die Darschanim gewissermaßen lustvoll in die Texte hinein verstricken und ihre eigenen Interpretationen als Kon-Texte zu dem biblischen Text hinzufügen. Auslegung setzt sich nicht an die Stelle des Textes, sondern bleibt beständige Kon-Textualisierung. Im Bild gesprochen: Der Text liegt in der Mitte, und um diesen Text herum gruppieren sich die unterschiedlichen Auslegungen der Rabbinen, die nur zusammen mit dem Text Sinn ergeben. Das neue Wort ihrer eigenen, individuellen und aktuellen Auslegungen gewinnen rabbinische Interpreten nur im ständigen Wechselspiel mit dem Text der Schrift.
(2) Menschenwort und Gotteswort – Apriorische Tora-Erwartung: Bereits in rabbinischer Zeit wurde diese Kon-Textualisierung durch das Begriffspaar schriftliche und mündliche Tora charakterisiert.59 Ausgangspunkt und immer neuer Bezugspunkt ist der kanonische Text, die schriftliche Tora. Diese wird erwartungsvoll immer neu gelesen, denn es gilt mit Ben Bag Bag: »Wende sie um und wende sie um, denn alles ist in ihr.« Das Ergebnis dieses immer neuen Umwendens ist die ständig wachsende, unabschließbare Interpretation der schriftlichen Tora, die als mündliche Tora bezeichnet werden kann. Die Fähigkeit der Rabhinen, unterschiedlichste und auch widersprüchliche Auslegungen des einen Schriftwortes nicht als problematischen exegetischen Wildwuchs, sondern als Kennzeichen des Reichtums und der Schönheit des biblischen Textes zu sehen, ergibt sich daraus, dass Rabbinen der schriftlichen Tora zutrauen, immer neu zum lebendigen Gotteswort zu werden. Eine Art theonom gebundene Rezeptionsästhetik der Tora prägt rabbinische skripturale Hermeneutik – und verleiht ihr eine gelassene, bescheidene und nicht selten humorvolle Offenheit. Ausdruck findet sie z. B. in PesK 12,25, einer Auslegung zu Ex 20,2. In der Einleitung des Dekalogs wird das ganze Volk, für die rabbinischen Ausleger überraschend, in der zweiten Person Singular (!) angere-
det: »Ich bin der HERR, dein Gott.« Im Midrasch heißt es dazu:
»Rabbi Levi hat gesagt: Es erschien ihnen der Heilige, gepriesen sei Er; wie jene Statue, die Gesichter auf jeder Seite hat. Tausend Mensehen blicken sie an, und sie sieht auf alle. So auch der Heilige, gepriesen sei Er: Als er sprach, sagte jeder Einzelne der Israeliten: Mit mir spricht das Wort. ›lch bin JHWH, euer Gott‹, steht hier nicht geschrieben, sondern: ›Ich bin JHWH, dein Gott‹. Es sagte R. Jossi bar Chanina: Nach der Kraft jedes Einzelnen redete das Wort mit ihm. Wundere dich nicht über diese Aussage, denn auch als das Manna auf Israel herunterkam, hatte es für jeden Einzelnen seinen Geschmack nach seiner Kraft. […] Und wie das Manna seinen Geschmack für jeden Einzelnen nach seiner Kraft hatte, so hört auch jeder Einzelne das Wort nach seiner Kraft.«
Zusammenfassend: Der Midrasch zeigt eine Lektüre, die imaginative Freiheit der Auslegung und wissenschaftlichen Eros im Umgang mit dem Text mit einer unbedingten Bindung an diesen Text verknüpft, die auf der Erwartung gründet, dass Gott selbst sein Wort neu zur Tora, zum anredenden, Weg weisenden Wort machen wird.
(3) Exegese und Homiletik – peschat und derasch: Freilich stellten sich bereits die rabbinischen Ausleger die Frage, ob die Freiheit der Auslegung wirklich grenzenlos sei. So sieht etwa Rabbi Jischmael in den Auslegungen seines rabbinischen Kollegen Eliezer ben Hyrkan einmal eine Grenze überschritten und kritisiert seine Auslegung mit den Worten: »Siehe, du sagst zum Schrifttext: Sei still, bis ich dich auslege.«60 In der mittelalterlichen rabbinischen Reflexion werden die Begriffe peschat und derasch verwendet, um im Spannungsfeld zwischen unbegrenzter Freiheit der Auslegung und notwendiger Bindung an den Text und seine ›Eigenaussage‹ eine Lösung zu finden.61 Peschat steht dabei für den »einfachen Wortsinn«, derasch für jede darüber hinausgehende Auslegung. Nötig sei es, so die mittelalterlichen Exegeten, bei jeder midraschischen Auslegung den einlachen Sinn, den Wortlaut des biblischen Textes, im Blick zu behalten.
Auf dem Hintergrund der modernen Problematik des Verhältnisses von Exegese und gemeindlicher Auslegung greift der jüdische Religionsphilosoph Peter Ochs auf das Begriffspaar peschat und derasch zurück.62 Peschat verbindet Ochs dabei mit der akademischen Auslegung des Textes, derasch mit der Vielfalt der Auslegungen in den Gemeinden. Diese gemeindliche Auslegung versteht er als die primäre Lektüre des Textes. Die Frage nach dem peschat in der Wissenschaft habe demgegenüber eine dienende Funktion. Sie werde bedeutungsvoll, wo sich die Auslegung in den Gemeinden auf problematische Weise verfestige bzw. wo der Text drohe, seine Gegenwartsbedeutung zu verlieren. Damit geht es nach Ochs um einen Dialog zwischen Wissenschaft und Gemeinde mit dem Ziel immer neuer deraschischer Auslegung. Keineswegs hebe Wissenschaft aber die Aufgabe, die Freiheit deraschischer Auslegung durch die Festlegung einer vermeintlich eigentlichen Textaussage zu hemmen.
Was könnte eine solche Besinnung auf skripturale rabbinische Hermeneutik für die christliche Predigt bedeuten? Aul ausführliche Herleitungen und Absicherungen muss ich hier verzichten. Erneut greife ich aber die drei von mir analysierten Grundfragen homiletischer Hermeneutik auf und deute Perspektiven aus der Wahrnehmung des homiletisch-hermeneutischen Zwillingsbruders an.
( 1) Predigt als Kon-Textualisierung: In seiner Kirchenpostille aus dem Jahr 1522 – einem Werk, das man modern vielleicht am ehesten als eine Sammlung von Predigthilfen bzw. Predigtmeditationen bezeichnen könnte – bestimmt Martin Luther es als Ziel seiner Auslegungen, einen Weg zur Schrift zu bahnen, damit diese selbst reden könne. Er schreibt: »Darumb hyneyn, hyneyn, lieben Christen, und last meyn und aller lerer aufwiegen nur eyn gerust seyn zum rechten baw, das wyr das blosse, lautter gottis wort selbs fassen, schmecken unnd da bleyben; denn da wonet gott alleyn ynn Zion. AMEN.«63
Im Lernen von jüdischer Auslegung und Predigt könnte sich ein exegetischer und homiletischer Umgang mit der Schrill gegenwärtig erneut nahelegen, der sich als »Gerüst zum rechten Bau« versteht und nicht etwa vom Text ausgehend – meta-skriptural – zu einer Aussage kommt und dabei den Text irgendwo zurücklässt. Dies meint in Aufnahme von Wahrnehmungen im Judentum auch der Exeget Jürgen Ebach, der eine Auslegung fordert, »die den Sinn der Texte nicht hinter ihnen sucht, sondern in ihnen, in ihren Worten und Buchstaben.«64 Predigt wäre damit Lese-Hilfe für den Text. Sie würde ihr Ziel darin sehen, die Hörerinnen und Hörer zu einem eigenen Lesen des Textes zu führen. Dazu müsste sie den Text während der ganzen Predigtrede lebendig halten und wäre daher als eine Predigt mit der offenen Bibel zu beschreiben, in der der Prediger das Bibelbuch nicht – im direkten und übertragenen Sinn – nach der Verlesung des Predigttextes zuschlägt, um dann das eigentliche Wort seiner Predigt folgen zu lassen. Die oben als mögliche Form rabbinischer Derascha vorgestellte Peticha, die von einem Text ausgehend in den Text der Parascha lührt, könnte m.E. auch in formal-homiletischer Perspektive anregendes Potential für die Gestaltung skripturaler christlicher Predigtrede
liefern.
(2) Erwartungsvolle Predigt: Gleichzeitig wäre eine solche Predigt erwartungsvoll – wie es jüdische Predigt und Auslegung im Umgang mit der Tora war und ist. Im Zweiten Vatikanischen Konzil wurde es als Ziel formuliert, den » Fisch des Gotteswortes« für die Gläubigen reicher zu bereiten und die »Schatzkammer der Bibel« weiter aufzutun.65 Die beiden Metaphern der Konzilserklärung beschreiben die Erwartung, dass es in der Bibel Wunderbares zu schmecken und Wertvolles zu schauen gibt. Eine solche Erwartung wird den biblischen Text in der Predigtrede groß machen und sich nicht meta-skriptural allzu schnell von ihm verabschieden. Sie wird nicht nur zeigen, was auf dem Tisch liegt, sondern die Gemeinde selbst schmecken lassen. Sie wird nicht nur über die Schatzkammer reden, sondern dieTüren weit öffnen. Sie wird ihr Ziel darin sehen, Hörerinnen und Hörer zu erwartungsvollen Lesern zu machen.
(3) Homiletik und Exegese im Wechselspiel: Das alte Ehepaar – Exegese und Homiletik – kommt nicht voneinander los, so Gerd Theißen. Und das ist gut so – und verheißungsvoll. Im Sinne von Peter Ochs‘ Relektüre der mittelalterlichen Unterscheidung von peschat und derasch nämlich bedeutet dies: Die Exegese hat die Aufgabe, die Lebendigkeit immer neuer Auslegung des Textes im gemeindlichen Kontext gegenüber jeder Erstarrung in kirchlich-tradierte oder individuell-assoziative Gewohnheitsauslegung zu fördern. Mit ihrem kritischen Potential setzt sie neue kreative Energie für die unabschließbare Aulgabe kirchlicher Interpretation frei. Natürlich setzt dies voraus, dass sich Exegese und Predigt wechselseitig füreinander interessieren und voneinander Kenntnis nehmen. Gemeinsam würden Exegese und Predigt in einer solchen wechselseitigen dialogischen Bezogenheit aufeinander und auf die Texte einen Beitrag zur Kon-Textuali-
sierung dieser Texte leisten, die als ihrer beider Aufgabe gesehen werden kann.
Dass Homiletik in Judentum und Christentum dabei gegenwärtig vor durchaus vergleichbaren Aufgaben steht, liegt m.E. auf der Hand. Und damit kehre ich am Ende zurück zum Anfang – zur Frage danach, wie die homiletischen Zwillingsbrüder gegenwärtig miteinander unterwegs sind und künftig unterwegs sein könnten.
Jakob und Esau, die Zwillingsbrüder, waren sich nach Jahren der ›Vergegnung‹ neu begegnet. Nach dieser Begegnung sagt Esau: »Lass uns aufbrechen und fortziehen; ich will mit dir ziehen« (Gen 33,12); wörtlicher ließe sich die Wendung ואלכה לנגדך in V. 12b mit »und ich will dir gegenüber gehen« oder »und ich will dir zusehen gehen« (Buber/Rosenzweig) übersetzen. Ein neues Miteinander der Zwillingsbrüder deutet sich an, ein gemeinsamer Weg, der allerdings – folgt man der Erzählung in Gen 33 – keineswegs bedeutet, dass Jakob und Esau nun im Gleichschritt wandern; Jakob nimmt sich die Freiheit, »gemächlich hintennach« (V. 14) zu ziehen und Esau den Vortritt zu lassen.
Wenn christliche und jüdische Homiletik sich als wechselseitiges Gegenüber verstehen und einander »zuseiten gehen«, so wird, kann und soll dies nicht bedeuten, dass eine gemeinsame, irgendwie konsensuale jüdisch-christliche Homiletik entwickelt werden müsste. Wie man inzwischen auch im ökumenischen Dialog gelernt hat, liegt der Reiz des Miteinanders nicht unbedingt im Konsens, sondern in der partnerschaftlich-versöhnten, aber wechselseitig herausfordernden Verschiedenheit.66 Das bedeutet für die Homiletik, dort miteinander zu gehen und zusammen zu arbeiten, wo sich dies nahe legt und z. B. gemeinsam nach der Relevanz der Predigt in der Gegenwart, nach dem Verhältnis von Predigt und Liturgie, nach der Hermeneutik Heiliger Texte zu fragen. Das bedeutet aber zugleich, gelassen und deutlich eigene Wege zu suchen. Denn genau diese werden es für den jeweils anderen Zwillingsbruder reizvoll und verheißungsvoll machen, den Blick nicht abzuwenden, sondern mit Interesse am anderen unterwegs zu sein: Es ist ja nicht ausgeschlossen, sondern liegt im Gegenteil nahe, im anderen Weg des Zwillingsbruders Lern- und Veränderungspotentiale für den eigenen Weg zu entdecken.67
Zuerst erschienen in : Theologische Quartalschrift 186 (2006), 262–282; online veröffentlicht unter der Lizenz CC BY-SA 3.