Die derzeitige Debatte um die Frage nach einer gelingenden Integration der Flüchtlinge in unsere Gesellschaft erinnert ein wenig an die Auseinandersetzung um die »angemessene« Kindererziehung. Alle wissen, dass pädagogische Konzepte und Interventionen notwendig sind, aber welche Ansätze überzeugen und sich schließlich durchsetzen, ist in unserer pluralen Gesellschaft immer strittig.
Über den Integrationsbegriff ist ebenso wenig ein Konsens herstellbar. Dies hat im Wesentlichen mit dem Menschen- und Gesellschaftsbild zu tun, das diesem Begriff zugrunde liegt. Zunächst einmal lassen sich einige soziologische Perspektiven benennen, die für den Zusammenhalt einer Gesellschaft erforderlich sind: Hierbei handelt es sich nicht um ideologische, sondern um funktionale Teilbereiche dieses großen Begriffs »Integration«. Unterschieden wird zwischen der sozialen, kulturellen, ökonomischen und rechtlichen Einbindung in eine Gesellschaft. Ziel dieses Prozesses ist die schrittweise aktive Teilhabe der Individuen an den unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern, sodass sie motiviert werden, sich mit der Gemeinschaft und ihren zentralen Wertorientierungen zu identifizieren. Der hier beschriebene Verlauf gilt für alle Mitglieder der Gesellschaft, ganz gleich, ob sie mit oder ohne Migrationshintergrund sind.
Zur Erinnerung: Die Angst vor dem Terror sowohl des Assad-Regimes als auch der Mörderbanden des »Islamischen Staats« oder anderer islamistischer Gruppen trieb sie in Flüchtlingsboote, mit denen sie – im besten Fall – in Europa ankommen und sich auf den Weg machen. Deutschland war für die meisten von ihnen das Ziel, das gelobte Land. Sie wissen kaum etwas über das Land ihrer Wahl, aber das, was sie wissen, reicht ihnen, um sich eine vermeintlich gesicherte Zukunft in Mitteleuropa auszumalen.
Deutschland öffnete de facto seine Grenzen. Doch mit Ankunft der Flüchtlinge begann die eigentliche Herausforderung: In der Regel haben die Migranten eine grundlegend andere religiöse, kulturelle, soziale und politisch Sozialisation erfahren als die meisten Bundesbürger. Die Herkunftsländer zeichnen sich dadurch aus, dass deren politisches System weder demokratisch noch liberal ist, von Rechtsstaatlichkeit kann keine Rede sein.
Durch die Fluchterfahrungen sind viele in ihrer Lebensplanung zutiefst verunsichert oder gar traumatisiert, sodass sie sich zunächst in der Aufnahmegesellschaft kaum orientieren können. Beruflich erlernte Kompetenzen oder individuelle Fähigkeiten, über die sie in ihrer Herkunftsgesellschaft verfügt haben, werden in Deutschland ebenso wenig erkannt oder anerkannt wie ihr ehemaliger sozialer Status. Die hier beschriebene biografische Situation findet ihren Ausdruck in dem Begriff »Kulturschock«.
Und hier beginnt ein Déjà-vu: Sind wir nicht in einem Film, den wir alle schon einmal gesehen haben? Vor 60 Jahren begann die Arbeitsmigration nach Deutschland, die das Land gravierend verändern sollte. Sogenannte Gastarbeiter wurden aus anderen Ländern angeworben; sie versprachen durch ihre Arbeit den Wirtschaftsaufschwung dadurch zu stabilisieren, dass sie den Arbeitskräftemangel kompensierten. Beide Parteien – die Arbeitsmigranten wie auch die deutsche Gesellschaft – gingen davon aus, dass die Gastarbeiter nach getaner Arbeit in ihre Heimatländer zurückkehren würden. Eine dauerhafte Liaison war weder vorgesehen noch erwünscht. Wie wir wissen, ging die Geschichte aber völlig anders aus. Ein Großteil der Migranten blieb in Deutschland, ohne dass sich Deutschland als Einwanderungsland verstand. So entwickelten sich »hinter dem Rücken« der Aufnahmegesellschaft migrantische Lebensformen, die nicht selten auf Unverständnis oder Ablehnung bei der Mehrheit stießen.
Erst Jahrzehnte nach dem Beginn der Zuwanderung erkannten die politisch Verantwortlichen, dass Integration gestaltet, rechtlich abgesichert, finanziert und sozialpädagogisch unterstützt werden muss. Der Preis für die verspätete Einsicht ist hoch: Neben und wegen einer hohen Schulabbrecherquote unter den Jugendlichen mit Migrationshintergrund haben sich teilweise parallelgesellschaftliche Strukturen entwickelt, in deren Rahmen eine religiös motivierte Radikalisierung von vorwiegend jungen muslimischen Männern zu beobachten ist.
Ein Großteil der »klassischen« Migranten hat inzwischen Deutschland als Lebensmittelpunkt gewählt und plant seine Zukunft in diesem Land. Deutsche und Zuwanderer, zum Teil bereits in dritter Generation, haben sich arrangiert, eine Art stabiler Vernunftehe, um die uns manche Nachbarstaaten beneiden. Krisen und Konflikte sind bei dieser Konstellation weder ausgeschlossen noch überraschend.
Und wie steht es um die Flüchtlinge? Der von ihnen geäußerte Wille, in Deutschland bleiben zu wollen, geht naheliegenderweise mit der Bereitschaft einher, sich auf die gesellschaftlichen und politischen Spielregeln des Aufnahmelandes einzulassen. Gleichwohl ist dieses Integrationsprojekt zum Scheitern verurteilt, wenn die notwendige Infrastruktur seitens der Aufnahmegesellschaft nicht zur Verfügung gestellt wird. Hierzu zählen Wohnungen, Arbeit, Sprachunterricht und Bildungsangebote. All dies wird nur im Zusammenhang mit einer konsequent durchgeführten Demokratieerziehung fruchten, deren Ziel es sein muss, die grundgesetzlich verankerten Rechte und Pflichten kennen-, würdigen und befolgen zu lernen.
Im Falle der Flüchtlinge stellt sich jedoch zunächst einmal die Frage, ob ein gesellschaftlicher Konsens darüber besteht, dass sie in Deutschland bleiben sollen. Unabhängig von dieser Einschätzung schreibt das Asylrecht vor, dass Personen aus Bürgerkriegsländern nicht in ihre Heimat abgeschoben werden dürfen, da ihnen dort Verfolgung oder gar der Tod drohen könnte. Da damit zu rechnen ist, dass die Befriedung der nahöstlichen Bürgerkriege noch lange auf sich warten lässt und die überwiegend traumatisierten Flüchtlinge in absehbarer Zeit nicht mehr in ihre Herkunftsländer zurückkehren wollen und können, stellt sich die Frage nach einem intelligenten und zukunftsorientierten Umgang mit der Situation.
Deutschland hat es in den ersten Jahrzehnten der Zuwanderung nach dem Zweiten Weltkrieg versäumt, die Tatsache anzuerkennen, dass der Prozess der Immigration irreversibel ist. Erst 50 Jahre nach dem Beginn der Anwerbung von Arbeitsmigranten entschied sich die politische Mehrheit, die Realitäten juristisch zu sanktionieren.
In all diesen Jahren migrationspolitischer Passivität gab es eine Ausnahme: Die Aufnahme der russischsprachigen jüdischen Zuwanderer wurde durch diverse Angebote unterfüttert, die eine Integration in und eine Identifikation mit der Aufnahmegesellschaft ermöglichen sollten. Und dies wurde zu einer wahrhaften Erfolgsgeschichte.
Deutschland erhält nunmehr eine zweite Chance, sich bewusst auf die Eingliederung und Einbindung von Hunderttausender Menschen aus uns kaum vertrauten sozialen und kulturellen Kontexten einzulassen. Integration ist ein Angebot, das von Menschen mit oder ohne Migrationshintergrund angenommen oder abgelehnt werden kann. Wenn die aufnehmende Gesellschaft die notwendigen einladenden Schritte unternimmt, wird es nur wenige unter den Zuwanderern geben, die ein solches Angebot nicht wahrnehmen können oder wollen. Der gesellschaftliche Druck innerhalb der Flüchtlingscommunity wird so groß sein, dass eine selbst gewählte Ausgrenzung entsprechend geahndet wird. Wer sich dennoch für den Weg des abweichenden oder kriminellen Verhaltens entscheidet, wird selbstverständlich mit der Härte des Gesetzes bestraft. Auf diese berechenbare Reaktion unseres Justizapparates sollte natürlich Verlass im Rechtsstaat sein.
Das liberale Integrationskonzept impliziert ebenso wie das Grundgesetz, dass jeder Mensch das Recht hat, sich kulturell und religiös zu entfalten. Die Religionsfreiheit und die Gleichberechtigung unter den Geschlechtern sind hehre und erkämpfte Werte in unserer Gesellschaft. Konflikte und Reibungen sind bei der Durchsetzung dieser Überzeugungen voraussehbar. Hier gilt es zu erklären, zu werben und engagiert für die eigenen Positionen zu streiten. Zugleich müssen wir aufmerksam sein, um Formen der Unterdrückung, die im Namen religiöser oder kultureller Traditionen praktiziert werden, rechtzeitig zu skandalisieren und gegebenenfalls rechtliche Schritte einzuleiten.
Integration beruht auf der Überzeugung, dass der Weg in die Gesellschaft sich lohnt. Wir können den vorbildhaften und Erfolg versprechenden Voraussetzungen unseres Gesellschaftssystems trauen und diesem zutrauen, die beschriebene Herausforderung zu meistern, ohne Zwang, aber mit klaren, transparenten Strukturen, die den Weg vom Rand in die Mitte der Gesellschaft eröffnen.
Sollten die zuvor genannten Integrationsbausteine ausbleiben, werden Befürchtungen, die in der jüdischen Gemeinschaft im Blick auf mögliche antisemitische und antiisraelische Einstellungen gehegt werden, sehr ernst zu nehmen sein. Frustrierte und ausgegrenzte Angehörige von ethnisch-religiösen Minderheiten reagieren häufig in Form einer religiösen Abkapselung und der Suche nach den Verantwortlichen für ihre Situation. Die Empirie lehrt uns, dass in diesen Fällen Juden oder Israelis bevorzugte Ziele darstellen. Eine der Hauptaufgaben der politischen Bildung der Flüchtlinge wird es sein, ihnen zu vermitteln, dass sie in ein Land gekommen sind, das ihnen nur dann eine Zukunft versprechen kann und will, wenn sie sich mit der Schoah und ihren Konsequenzen auseinandersetzen. Dies gehört ebenso zu den Pflichten einer reflektierten politischen Kultur wie der humane Umgang mit Flüchtlingen.
Zuerst erschienen in: nachrichten der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern 2 (2016) , 22–24.
Doron Kiesel
Dr. Doron Kiesel ist Professor em. für Interkulturelle und Internationale Pädagogik und Soziale Arbeit an der Fachhochschule Erfurt und Mitglied des Vorstandes der AG Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag; zahlreiche Veröffentlichungen zu migrationspädagogischen und migrationssoziologischen Fragen; Forschungsschwerpunkt: Untersuchungen zur Integration russischsprachiger Juden in Deutschland seit 1990; seit 2012 Wissenschaftlicher Direktor der Bildungsabteilung des Zentralrats der Juden in Deutschland.