Welchen Platz hat Israel in christlicher Theologie? Diese grundlegende Selbstverortung christlicher Theologie und Kirche für das jüdisch-christliche Gespräch hat Pfarrer Dr. Manuel Goldmann bereits mit Blick auf die ÖRK-Vollversammlung in Karlsruhe im letzten Jahr anhand einer ausführlichen Thesenreihe behandelt. In einer Arbeitsgruppe aus dem Verein „Studium in Israel“ zusammen mit Prof. Dr. Martin Hailer und Maria Coors ist aus dem ausführlichen Thesenpapier eine kurze Thesenreihe entstanden. Auf dem Kirchentag in Nürnberg diskutieren wir diese in einer ökumenischen Gesprächsrunde mit Prof. Dr. Georges Tamar, Dr. Deborah Storek und Prof. Dr. Andreas Krebs am Donnerstag, den 8. Juni 17.00-18.00. Die Kurzthesenreihe kann schon vorab heruntergeladen werden:
Thesenreihe: Erwählung – Christologie – Rechtfertigung – Mission
Evangelischer Kirchentag in Nürnberg, 9.6.2023
Versöhnung
1. »Ist jemand in Christus – neue Schöpfung! Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.« (2. Kor 5,17) So formuliert Paulus das die Welt verwandelnde Versöhnungshandeln Gottes in Christus. Die Kirche bekennt ihn deshalb als ihren Herrn.
2. Sie bekennt zugleich, dass Gott, der Vater Jesu Christi, zu dem dieser mit den Worten »Abba, Vater!« (Mk 14,36) betet, kein anderer ist als der Gott Israels. Als Zeugin der Versöhnung in Christus weiß sich die Kirche deshalb in ein besonderes Verhältnis zu Israel gerufen.
3. Von ihrer Erwählung zum Dienst weiß die Kirche nur, weil die Erwählung Israels ihr als role model vor Augen gestellt ist. Der Bund Gottes mit den leiblichen Nachkommen Abrahams, Isaaks und Jakobs ist deshalb als unverändert in Kraft stehend zu behaupten. Wäre es anders, hätten die Christusgläubigen aus den Völkern keine Basis, für sich selbst auf Gottes Treue zu hoffen.
4. Die bleibende Erwählung Israels ermöglicht christliche Theologie. Sie stellt sie zugleich vor die Aufgabe, ihr Bekenntnis zu Christus, dem Sohn Gottes, im Angesicht dieser bleibenden Erwählung zu erklären.
Christologie
5. Das dem Volk Israel offenbarte Wort Gottes wurde in Christus Fleisch, leibhaft präsent in diesem einen Menschen.
6. Das Wort Gottes wurde jüdisches Fleisch. Dies ist kein austauschbares, zufälliges Prädikat, sondern theologisch wesentlich. Im jüdischen Volk kommt Gottes Wort zur Welt; und der konkrete jüdische Mensch, Jeschua, Sohn der Mirjam, verkörpert es in einzigartiger Weise.
7. Das christliche Gottesbekenntnis gilt dem Gott Israels, wobei Christinnen und Christen ertragen müssen, dass Jüdinnen und Juden dieser Identifikation zustimmen oder aber sie ablehnen können. Bedeutende jüdische Dialogdokumente (»Dabru Emet«, 2000; »Den Willen unseres Vaters im Himmel tun«, 2015) haben zugestimmt und so weitreichende Dialogmöglicheiten eröffnet.
8. Die großen Sätze der Christologie (Inkarnation – Sammlung/Verkündigung – Passion – Ostern – Himmelfahrt – Pfingsten) werden im Neuen Testament mit dem semantischen Material der Hebräischen Bibel entfaltet. Sie nehmen die Christusgläubigen in die Geschichte Gottes mit seinem Volk hinein; mitnichten aber beenden sie diese Geschichte oder begründen sie neu.
Rechtfertigung
9. Das Evangelium von der Gerechtigkeit Gottes (Röm. 1,16f.), das Paulus verkündigt, verbindet die Gläubigen aus den Völkern mit dem jüdischen Volk, weil es sie zu dem Gott in Beziehung stellt, der der Gott Israels ist.
10. Insbesondere die traditionelle evangelische Sichtweise, die auf das Heil des/der Einzelnen fokussiert, hat tendenziell vergessen, dass es Paulus in seinen Rechtfertigungsaussagen um die Hineinnahme in die Gemeinschaft des Bundes mit Gott geht. Paulu antwortet auf die Frage: Wie kann es im Einklang mit der Torah sein, dass auch Nichtjuden zum Gott Israels finden?
11. Für die paulinische Antwort ist die Erzählung der Torah vom Vertrauen Abrahams zentral. Wer sich, wie Abraham, in solchem Vertrauen Gott überlässt, der wird ihm recht – auch unabhängig von den nur für das jüdische Volk geltenden Verpflichtungen der Einzelgebote.
12. Indem die Glaubenden aus den Völkern zum Gott Abrahams, Isaaks und Israels finden, werden sie zugleich mit seinem Volk Israel verbunden.
13. Zu Gottes Gabe und Aufgabe an sein Volk Israel gehört laut der Heiligen Schrift die
Gestaltung des Lebens in dem Land, das er ihm zugesprochen hat. Die jüdische Wirklichkeit ernstzunehmen, bedeutet auch, sich dem zu stellen, dass »Eretz Jisrael« für das Judentum aller Jahrhunderte ein wesentlicher Bezugspunkt war und ist.
14. Die Gabe des Landes ist in der Bibel und der rabbinischen Tradition mit der Forderung nach Gerechtigkeit gegenüber allen im Land Lebenden verbunden. Wie diese Verbindung aus partikularem Handeln Gottes an Israel und universalem Auftrag zu konkretisieren ist, war und ist innerjüdisch heftig umstritten. Für Christusgläubige aus den Völkern bleibt nur, dieses Ringen solidarisch zu begleiten. Für ihren eigenen Glauben hat das »verheißene Land« einen sehr anderen, in manchen Aspekten noch neu zu klärenden, theologischen Stellenwert.
Mission
15. Der Widerspruch der jüdischen Mehrheit zum messianischen Bekenntnis der Jesus-
Gemeinschaft, so schmerzlich er ist, muss in Demut und Liebe ausgehalten werden – um der Treue Gottes willen (Röm. 11,29-32).
16. Christliche Mission unter jüdischen Menschen ist unangebracht, weil sie voraussetzen würde, dass ihnen der biblisch bezeugte Gott allererst bekannt gemacht werden müsste. Sie leben aber bereits mit ihm. Das unterscheidet das christliche Verhältnis zu Jüdinnen und Juden von dem zu allen anderen Menschen.
17. Die Mission der Kirche in Beziehung zum jüdischen Volk kann nur in Einem bestehen: in ihrer messianischen Praxis, die etwas aufscheinen lässt von dem Neuen, das in Christus wirklich geworden ist. Christinnen und Christen sind aufgefordert, ihr Zeugnis so zu leben, dass jüdische Menschen aufhorchen und in der christlichen Praxis etwas von ihren eigenen Hoffnungen wiedererkennen (Röm 11,11).
Manuel Goldmann, Maria Coors, Martin Hailer