Jens Schröter
Peter von der Osten-Sacken war ein großer Gelehrter, ein leidenschaftlicher Demokrat, ein energischer Streiter für eine christliche Theologie, die sich ihrer Einbettung in die jüdischen Schriften und Traditionen sowie der daraus erwachsenden Verpflichtungen bewusst ist. Er hat zu einer Neubesinnung christlicher Theologie nach der Shoa substantiell beigetragen; er hat Generationen von Pfarrinnen und Pfarrern geprägt; er hat maßgebliche Studien, u.a. zu Paulus, zum jüdischen Gottesdienst, zum christlichen-jüdischen Gespräch und zu Martin Luther, verfasst. Mit seinem Tod vollendet sich ein reiches Leben als Lehrer, Forscher und Gesprächspartner an der Kirchlichen Hochschule Berlin (West), der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin und am Institut Kirche und Judentum. Seine Wirkung reicht weit über diese Kontexte hinaus und hat zu zahlreichen Ehrungen geführt, die sein Engagement in Universität, Kirche und Gesellschaft würdigen.
Peter von der Osten-Sacken wurde in Gnojau in Westpreußen geboren. Seine Schulzeit verbrachte er in Niedersachsen, wo er von 1950 bis 1959 das Gymnasium Ernestinum in Celle besuchte. Während dieser Zeit spielte er mit Begeisterung Fußball und war zweimal Niedersachsenpokalmeister mit der A-Jugend des TSV Burgdorf. Im Anschluss an die Schulzeit studierte er evangelische Theologie in Göttingen, Kiel und Heidelberg und legte 1964 das 1. Theologische Examen bei der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover ab. Bereits in dieser Zeit entwickelte er ein Interesse für Israel, was in mehreren Reisen ins Heilige Land sowie in der Leitung der christlich-jüdischen Arbeitsgemeinschaft der evangelischen Studentengemeinde in Kiel Ausdruck fand. Nach dem Studium trat er eine Stelle als wissenschaftlicher Assistent an der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen bei Eduard Lohse an. Dort wurde er 1967 mit einer Arbeit über die Qumranschriften promoviert, die 1969 unter dem Titel „Gott und Belial. Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zum Dualismus in den Texten aus Qumran“ (Studien zur Umwelt des Neuen Testaments 6), publiziert wurde. Es folgten ein halbjähriges Vikariat in Bremke bei Göttingen im Jahr 1968 sowie die Zuwendung zu seinem Habilitationsvorhaben mit einem zentralen Thema der neutestamentlichen Wissenschaft. Die Habilitationsschrift, eine traditions- und überlieferungsgeschichtliche Untersuchung von Römer 8, wurde im Wintersemester 1972/73 von der Göttinger Fakultät angenommen und 1975 unter dem Titel „Römer 8 als Beispiel paulinischer Soteriologie“ publiziert (Forschungen zu Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments 112). In dieser Zeit hat Peter von der Osten-Sacken eine weitere, kleine aber gleichwohl gewichtige und viel beachtete Studie verfasst. Im Jahr 1969 erschien die Abhandlung „Die Apokalyptik in ihrem Verhältnis zu Prophetie und Weisheit“ (Theologische Existenz heute 57), in der er sich kritisch mit der These Gerhard von Rads auseinandersetzt, die Apokalyptik wurzle im weisheitlichen Schrifttum des Judentums. Stattdessen, so von der Osten-Sacken, sei die Prophetie als Nährboden apokalyptischer Weltdeutung anzusehen, was er insbesondere anhand des Buches Daniel darlegt.
Unmittelbar nach seiner Habilitation, noch im Jahr 1973, wurde Peter von der Osten-Sacken an die Kirchliche Hochschule Berlin (West) berufen, wo er bis zur Neugründung der Berliner Theologischen Fakultät im Jahr 1993 als Professor für Neues Testament tätig war. Von 1980 bis 1982 war er zudem Rektor der Kirchlichen Hochschule. Mit der Zusammenführung der Berliner theologischen Ausbildungsstätten kam Peter von der Osten-Sacken an die Theologische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, der er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2005 treu blieb. Seit 1974 war er zudem Leiter des Instituts Kirche und Judentum, eine Aufgabe, die er mit großem Engagement über seine Emeritierung hinaus bis zum Jahr 2007 wahrnahm. Das Institut hat durch die zahlreichen Initiativen, die Peter von der Osten-Sacken angestoßen hat, erheblich an Bekanntheit und Strahlkraft gewonnen und ist zu einer wichtigen Institution, weit über den Berliner Kontext hinaus, geworden. Im Laufe seiner Forschungs-, Lehr- und Publikationstätigkeit trat die Frage nach einer in Verantwortung vor ihren jüdischen Wurzeln betriebenen christlichen Theologie immer stärker in den Vordergrund. In seiner Vorlesung über den Römerbrief, die er mehrfach gehalten hat, legte er Wert darauf, dass das Ringen des Paulus um eine Antwort auf die Frage nach der Rettung ganz Israels in den Kapiteln 9 bis 11 kein „Appendix“ sei, sondern ein zentraler und integraler Bestandteil des Briefes. Darin wird ansichtig, was nach Auffassung von Peter von der Osten-Sacken unverzichtbar ist und ins Zentrum akademisch-theologischer Reflexion und kirchlichen Handelns gehört: Israel ist und bleibt Gottes erwähltes Volk, dem die Verheißungen gelten und dem Gott sein Heil zugesagt hat. Das wird, und Peter von der OstenSacken wurde nicht müde, es immer wieder zu betonen, auch durch das im Evangelium offenbar werdende Heil Gottes nicht revoziert. Was heute den meisten in Theologie und Kirche Tätigen als selbstverständlich erscheinen mag, war es seinerzeit keineswegs. Gerade darum hat diese, damals neue und aufrüttelnde Sicht auf den Römerbrief und das Neue Testament insgesamt tief in die Pfarrer- und Pfarrerinnenschaft, nicht nur in Berlin, hinein gewirkt. Im Berliner und Brandenburger Kontext ist das heute, etwa bei Pfarrkonventen und Pastoralkollegs, immer wieder zu spüren. Das im vergangenen Jahr in deutscher Übersetzung erschienene “Jewish Annotated New Testament” („Das Neues Testament jüdisch erklärt“, Stuttgart 2021) hat Peter von der Osten-Sacken deshalb mit großer Freude und auch mit einer gewissen Genugtuung zur Kenntnis genommen, wird hier doch eindrücklich vor Augen geführt, was er seit Jahrzehnten vertreten hatte: dass nämlich das Neue Testament als ein jüdisches Buch zu lesen und zu interpretieren sei. Der Einsatz für das christlich-jüdische Gespräch war ihm eine Herzensangelegenheit. Es sollte, wie er oft betonte, nicht ein Gespräch unter Christen über Juden sein, sondern ein wirklicher, von gegenseitigem Respekt getragener Dialog. Dem dienten die zahlreichen Kontakte nach Israel, das Programm „Studium in Israel“, das Peter von der Osten-Sacken mitbegründet und in dem er viele Jahre aktiv mitgewirkt hat, sowie die christlich-jüdische Sommeruniversität, eine der maßgeblichen Veranstaltungen des Instituts Kirche und Judentum, die er ins Leben gerufen hat und die seit 1987 in zweijährlichem Rhythmus stattfindet. Auch die Publikationstätigkeit gibt in reichem Maße Einblick in die intensive Arbeit, die Peter von der Osten-Sacken der Verständigung mit dem Judentum und einer Neuausrichtung der Interpretation des Neuen Testaments sowie der christlichen Theologie insgesamt gewidmet hat. Nur Weniges kann hier genannt werden. Gemeinsam mit Rabbiner Chaim Z. Rozwaski hat er den Band „Die Welt des jüdischen Gottesdienstes. Feste, Feiern und Gebete“ herausgegeben (2009, zweite Auflage 2014, als Band 29 der Veröffentlichungen aus dem Institut Kirche und Judentum). Ebenfalls gemeinsam mit Chaim Z. Rozwaski hat er die von dem Philologen und Pädagogen Dr. Elieser L. Ehrmann in den Jahren 1936 bis 1938 zusammengestellten Unterrichtsmaterialien zu jüdischen Festen für den Unterricht an deutschen Schulen neu ediert („Von Trauer zur Freude. Leitfäden und Texte zu den jüdischen Festen“, 2012 als Band 30 der eben genannten Reihe erschienen). Dieser Band ist ein eindrückliches Zeugnis nicht nur für die Situation der jüdischen Schule und Erziehung in der nationalsozialistischen Zeit, sondern auch für die Kenntnis über die jüdischen Feste, die Ehrmann zusammengestellt hat und die hier mustergültig ediert wurden.
Seine Sicht auf das Neue Testament, mit einem Schwerpunkt auf Paulus, hat Peter von der Osten-Sacken in zahlreichen Arbeiten vorangetrieben, von denen sich etliche in Bänden mit gesammelten Studien finden. Besonders hingewiesen sei auf: „Der Gott der Hoffnung. Gesammelte Aufsätze zur Theologie des Paulus“ (2014 in der Reihe „Studien zu Kirche und Israel. Neue Folge“, Band 3, erschienen). Hier finden sich Beiträge zum Römerbrief und den Korintherbriefen, die das Zerrbild einer angeblich negativ-kritischen Sicht des Paulus auf die Tora zurechtrücken und ihr ein deutlich differenziertes Bild entgegenstellen. Dazu gehören z.B. ein umfangreicher Aufsatz über „Das Verständnis des Gesetzes im Römerbrief“ sowie ein weiterer zu den oben genannten Kapiteln Römer 9 bis 11, die als „Schibbolet christlicher Theologie“ bezeichnet werden. Die Beschäftigung mit „Paulus im Judentum“ – so die Selbstbezeichnung einer derzeit aktuellen Paulusperspektive, die in Peter von der OstenSacken einen veritablen Wegbereiter und Mitstreiter besitzt – wird durch seinen Kommentar zum Galaterbrief (erschienen 2019) abgerundet. Darin wird die Kontinuität im Denken und Handeln des Paulus herausgearbeitet, die ungeachtet seiner Wende vom Verfolger der Jesusanhänger zum Verkünder des Evangeliums bestand und die zu beachten für eine sachgerechte Interpretation der Theologie des Paulus von grundlegender Bedeutung ist. Weitere Studien in dem genannten Band zeichnen diese Sicht in einen weiteren theologischen Horizont ein, so z.B.: „Abraham als biblische Urgestalt. Theologische Überlegungen zu seiner Deutung bei Paulus, Luther und im Judentum“. Damit ist ein weiterer Schwerpunkt der Arbeiten von Peter von der Osten-Sacken angesprochen, nämlich „ein Christusverständnis, das Israel achtet und bejaht“, (so der Untertitel eines weiteren Aufsatzes) in christlicher Theologie und Kirche zur Wirkung zu bringen. In diesem Sinn hat er z.B. das Verhältnis Martin Luthers und der lutherischen Theologie zu Judentum und jüdischer Theologie in der Monographie „Martin Luther und die Juden – neu untersucht anhand von Anton Margarithas ,Der gantz Jüdisch glaub‘ (1530/31)“, Stuttgart 2002, analysiert. In dieser und ähnlichen Arbeiten ging es Peter von der Osten-Sacken darum, Verwerfungen zu überwinden, Missverständnisse aufzuklären, „Gedanken zu Ort, Art und Aufgabe jüdischer Studien in der christlichen Theologie“ (so ein anderer Untertitel) zu entwickeln, auf das christlich-jüdische Gespräch in der Kirche einzuwirken und Konsequenzen daraus, z.B. für die Gestalt evangelischer Gottesdienste, zu bedenken. Von diesem Anliegen zeugt auch eine schier unüberschaubare Zahl an Vorträgen, die Peter von der Osten-Sacken in akademischen, kirchlichen und anderen gesellschaftlichen Kontexten gehalten hat. In seinen letzten Jahren hat es ihm eine tückische Krankheit nur noch selten und unter großen Strapazen erlaubt, sein Haus in Berlin-Lichterfelde zu verlassen. Das hat ihn aber nicht davon abgehalten, wann immer es ihm möglich war, weiter an seinen Vorhaben zu arbeiten. Daraus ist zuletzt eine große Geschichte des jüdischen Gottesdienstes hervorgegangen, die er zu Beginn des Jahres 2022 noch hat abschließen können. Er hat sich aber auch an seiner größer werdenden Familie erfreut und sich von dieser inspirieren lassen. So hatte er sich vorgenommen, für seine Enkelkinder – und für alle Kinder, die daran Freude haben, – die Bibel nachzuerzählen. Daraus ist, als eine seiner letzten Publikationen, ein kleines, mit Illustrationen versehenes Büchlein hervorgegangen, das 2021 im Kadmos Verlag erschienen ist (2. Auflage 2022): „Die Bibel und ihre kühnen Geschichten: Das 1. Buch Mose, für Kinder zwischen 12 und 120 erzählt und illustriert von Peter von der Osten-Sacken“.
Für sein Wirken ist Peter von der Osten-Sacken 2005 durch den Deutschen Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit mit der Buber-RosenzweigMedaille ausgezeichnet worden. 2006 wurde ihm der Doctor of Humane Letters honoris causa durch das Hebrew Union College – Jewish Institute of Religion, Los Angeles/New York verliehen; 2016 erhielt er den Moses-Mendelssohn-Preis des Landes Berlin zur Förderung der Toleranz gegenüber Andersdenkenden und zwischen den Völkern und Religionen. Peter von der Osten-Sacken wurde 2007 vom Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin die Würde eines Ehrendoktors verliehen.
Die Theologische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin ist dankbar für das langjährige, fruchtbare Wirken von Peter von der Osten-Sacken. Es hat tiefe Spuren und nachhaltige Wirkungen hinterlassen. Seine Anstöße sind für seine Nachfolgerinnen und Nachfolger Verpflichtung und Ansporn, sie werden es auch für künftige Generationen akademischer Lehrerinnen und Lehrer, ebenso wie für Pfarrerinnen und Pfarrer, sein.
Für die Theologische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin
Jens Schröter