Frank Crüsemann
Lieber Martin, vermutlich kenne ich Dich von allen hier am längsten. Du hast mich mehr und tiefer beeinflusst, als Du vielleicht selbst weißt. Ich möchte an einige der sehr persönlichen Begegnungen erinnern und dabei vor allem zwei Dinge nennen, die für mein Leben und Arbeiten zentral geworden sind und für die ich Dir außerordentlich dankbar bin.
Wir sind uns 1961 zuerst begegnet, wohl in Prag, bei der 1. Allchristlichen Friedensversammlung, an der wir beide teilgenommen haben. Ich war noch mitten im Studium und von Martin Schröter, damals Studentenpfarrer in Heidelberg dafür gewonnen worden. An die konkrete Begegnung habe ich allerdings keine Erinnerung.
Genauer haben wir uns dann kennen gelernt bei einer Reise nach Ungarn an der Jahreswende 1963/64, im Zusammenhang der CFK. Nach mehr als einem halben Jahrhundert sind mir zwei Dinge im Rückblick besonders eindrucksvoll im Gedächtnis. Das eine ist ein Einkaufsbummel mit Deiner Frau – wohl in Debrecen. Es ging um Mitbringsel und sie hat einen hölzernen Straßenbahnwagen erstanden, der mir noch genau vor Augen steht.
Das andere war ein Besuch bei Georg Lukács, dem großen jüdischen Denker des Marxismus, in Budapest. Da war alles hoch eindrucksvoll, besonders dieser Mensch, obwohl ich damals noch weniger von ihm wusste als heute. In Erinnerung ist mir vor allem seine dunkle Wohnung mit den vielen Büchern, nicht so sehr die Einzelheiten des Gesprächs. Wahrscheinlich weißt Du noch, worüber wir gesprochen haben. (In der Tat hat Martin dann in Berlin mit Details darüber aufgewartet). Dieser Kontakt war typisch für Dich: ein Kontakt mit dem berühmten Außenseiter, der eigentlich immer zwischen allen Stühlen saß. Und das bis heute: Die Regierung Orban hat sein Archiv schließen und sein Denkmal abräumen lassen.
Warum erzähle ich das? Weil es für das steht, was mich besonders geprägt hat und wofür Du mir Vorbild und Wegweiser geworden bist. Wir trafen uns im damals „linken“ Milieu. Es war lange vor 1968 und noch ganz im Schatten der 50er Jahre. Frieden war das Hauptthema auch für uns, damals im Kalten Krieg, erst als zweites kam dann Gerechtigkeit dazu. Es ging um eine neue Gestalt des Christentums nach dem Versagen von Kirche und Theologie im 3. Reich. „Christen bohren kleine Löcher in eiserne Vorhänge“, habe ich als Zitat aus einem Deiner damaligen Vorträge im Ohr. Sie tun das Unerlaubte, auch wenn das nicht zu ihrem guten Ruf beiträgt. Das hat mich stark geprägt.
Der christlich-jüdische Dialog, überhaupt alles, was mit dem Judentum zu tun hatte, war weit weg – jedenfalls für mich. Ich war noch lange mitten im Milieu der massiv antijüdischen Nachkriegstheologie. Aber Du warst damals schon mitten drin. 1960 ist Dein erster Artikel über Luther und die Juden erschienen (EvTh). Spätestens 1961 warst Du in der AG, wurdest 1962 ev. Vorsitzender des dt. Koordinierungsrates! U.s.w. Du hast immer beides vereint, was vielen so getrennt erschien, das Links-Politische und die Begegnung mit dem Judentum mit ihren neuen theologischen Aufgaben. Für diese Verbindung standest Du wie wenige andere, vor allem Hellmut Gollwitzer und Rolf Rendtorff wären noch zu nennen. Dass beides zusammengehört, dass die Frage nach dem christlichen Versagen in der Judenfrage zentral auch für die anderen politischen Fragen war und ist (und nicht etwa umgekehrt und in der Reihenfolge nicht umkehrbar) – das habe ich an Dir zuerst gesehen und gelernt. Davon ließest Du Dich von niemandem abbringen, und davon hast Du schließlich viele überzeugt.
Von den vielen Schritten, die ich – viel später als Du, und das nicht nur im Altersabstand – gegangen bin, bin ich Dir für viele, aber für einen in besonderer Weise dankbar. Er hat mein Denken bis heute geprägt. Er hängt mit Deinem überreichen Wirken als Herausgeber zusammen. Es geht um das Buch „Erinnern, nicht Vergessen. Zugänge zum Holocaust“ von 1979. Es geht um eine Textsammlung, die Bekanntes und Unbekanntes (zB Texte von Voltaire und Marx), Positives und Negatives zusammenstellt und in vielerlei Hinsicht hilfreich war. Und das galt besonders von einem Text. Ich selbst war ja inzwischen einen Umweg (wenn man so will) gegangen, hatte mich auf die wissenschaftliche. Arbeit am AT eingelassen (ohne den Zusammenhang mit dem Judentum und der näheren Vergangenheit zu durchschauen, ich habe ihn bestenfalls geahnt). Er hatte mich nach Israel zur Archäologie geführt, und dort zu intensiven Begegnungen und Freundschaften mit Juden und Jüdinnen. Erst nach der Habilitation gab es eine inhaltliche Annäherung an das Thema in Gestalt einer Vortragsreihe über „Auschwitz – Krise der christlichen Theologie“ in Heidelberg (erschienen 1980). Damit begann für mich die Arbeit an einem Weg zur Tora, also zum theologisch nach wie vor massiv abqualifiziertem „Gesetz“. Ich saß an der Vorbereitung für einen Vortrag über „Tora und christliche Ethik“. Das warf viele und grundsätzliche Fragen auf, nicht zuletzt zur Rolle von Tora und Ethík für die Gottesfrage. Hier war besonders in lutherischer Tradition alles massiv negativ besetzt. Und da fiel mir durch Dich ein ganz neuer Weg zu, denn ich entdeckte in diesem Band den Text von Zvi Kolitz, „Jossel Rakovers Wendung zu Gott“ (unter dem anderen Titel: „J.R. spricht zu Gott“), den ich bis dahin nicht kannte. Für alles, was mit der Shoa zusammenhing, war und ist er theologisch, zentral. Besonders aber galt das für die Passagen über die Tora: „Ich glaube an den Gott von Israel, auch wenn er alles dazu getan hat, mich an ihn unglauben zu machen. Ich glaube an seine Gesetze, auch wenn ich seinen Taten die Berechtigung abspreche…. Ich habe ihn lieb, aber seine Thora habe ich noch lieber. Und selbst hätte ich mich in ihm getäuscht – seine Thora würde ich weiterhüten. Gott bedeutet Religion, aber seine Thora bedeutet Lebensweise“ (S. 114). Hier war die Tora zu dem Punkt in der Gottesbeziehung geworden, von dem alles abhängt. Für mich war das Ausgangspunkt für Vieles und bleibender Angelpunkt. Ich danke Dir für die Vermittlung.
Eine engere und kontinuierliche Zusammenarbeit ergab sich, seitdem ich in der AG Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag war, zuerst in jener denkwürdigen Krisensitzung nach dem Golfkrieg. Davon wäre viel zu erzählen, aber das können andere mindestens genauso gut.
Frank Crüsemann
Berlin, den 26. Februar 2018